Neue Zürcher Zeitung (CH), 25.11.2000

Nahöstliche Telefondiplomatie im Kreml

Putin knüpft Gesprächsfaden zwischen Barak und Arafat

Präsident Putin hat in den letzten Wochen die träge Nahostdiplomatie Russlands angekurbelt und am Freitag den Palästinenserführer Arafat empfangen. Unter seiner Vermittlung führte Arafat vom Kreml aus ein Telefongespräch mit Israels Ministerpräsidenten Barak. Die beiden vereinbarten eine neue Kooperation im Sicherheitsbereich.

A. R. Moskau, 24. November

Bei einem kurzfristig anberaumten Besuch in Moskau hat der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde, Arafat, am Freitag mehrstündige Gespräche mit Präsident Putin über mögliche Auswege aus der verfahrenen Lage in Israel und den besetzten Gebieten geführt. Russland übt neben den USA formell die Funktioneines Co-Sponsors des nahöstlichen Friedensprozesses aus, spielte in den letzten Jahren jedoch nur eine marginale Rolle in der Region und wurde zu den unter amerikanischer Regie geführten Friedensverhandlungen von Sharm-ash- Sheikh im Oktober nicht einmal eingeladen.

Aktivere Nahostdiplomatie Moskaus Putin erreichte am Freitag immerhin einen kleinen Erfolg; es gelang ihm, ein Telefongesprächzwischen Arafat und dem israelischen Ministerpräsidenten Barak einzufädeln. Offenbar fiel esden beiden leichter, den abgerissenen Gesprächsfaden über den Umweg von Moskau wiederaufzunehmen. Laut israelischen Angaben vereinbarten die zerstrittenen Seiten, ihre Sicherheitszusammenarbeit zu erneuern und zu diesem Zweck die Tätigkeit der gemeinsamen lokalen Koordinationsbüros wiederaufzunehmen. Damit soll offenbar die Gefahr von neuen blutigen Zusammenstössen in den Autonomiegebieten verringert werden. Auch Putin führte ein langes Telefongespräch mit Barak und präsentierte ihm die Ergebnisse seines Meinungsaustauschs mit Arafat. Laut dem russischen Vizeaussenminister Awdejew unterbreitete der Kremlchef den beiden nahöstlichen Politikern neue Ideen zur Beruhigung der Situation. Sie sollen über die Vereinbarungen von Sharm-ash-Sheikh, wo sich die beiden Konfliktparteien zum Gewaltverzicht verpflichtet hatten, hinausgehen und zur Umsetzung jenes Abkommens beitragen. Awdejew verriet jedoch keine Details der neuen russischen Initiative.

Die Vermittlungsaktion Putins erfolgt vor dem Hintergrund einer deutlich aktiveren Nahostdiplomatie Russlands. Aussenminister Iwanow absolvierte vergangene Woche eine siebentägige Rundreise, die ihn in den Irak, nach Ägypten, Israel, in die palästinensischen Autonomiegebiete, nach Jordanien, Kuwait und Saudiarabien führte. Ausserdem telefonierte er mit mehreren westlichen Aussenministern über die bedrohliche Entwicklung in der Region. Für die nächste Woche wird ferner der israelische Aussenminister Ben- Ami in Moskau erwartet. Griffige Rezepte zu einer Entspannung kann aber auch Russland nicht vorweisen, und Putin musste am Freitag gegenüber Arafat konstatieren, dass alle Treffen nutzlos seien, solange es nicht gelinge, das Ausmass der Gewalt im Nahen Osten zu vermindern.

Wiederaufnahme gemeinsamer Patrouillen im Gazastreifen
gsz. Jerusalem, 24. November

Nach dem Telefongespräch zwischen Arafat und Barak sind am Freitag die Dienststellen der gemeinsamen Patrouillen im Gazastreifen wieder geöffnet worden. Die Liaison-Büros im Gazastreifen waren am Donnerstag nach einem tödlichen Attentat von den Israeli geschlossen worden. Laut einem Communiqué wird Baraks Sicherheitsberater, Danny Yatom, am Sonntag nach Kairo reisen, um Präsident Mubarak von den jüngsten Entwicklungen zu unterrichten. Dabei sollen auch die Beziehungen zwischen Israel und Ägypten zur Sprache kommen.

Am Freitag wurden ein Israeli in Cisjordanien sowie ein israelischer Offizier im Gazastreifen von palästinensischen Schützen erschossen. In der Nähe von Hebron explodierte ein am Strassenrand deponierter Sprengsatz, allerdings ohne Schaden anzurichten. Am Montag waren zwei Israeli bei dem Anschlag gegen einen Schulbus im Gazastreifen ums Leben gekommen, am Dienstag wurde ein Soldat von einem palästinensischen Scharfschützen im Gazastreifen erschossen. Am Mittwoch wurden zwei Israeli in Hadera Opfer eines Autobusattentates, und am Donnerstag wurden zwei Soldaten im Gazastreifen bei einem Bombenanschlag und durch Schüsse von Scharfschützen getötet.

Vorerst keine Vergeltungsmassnahmen

Israel wird die tagtäglichen Opfer nicht mehr lange verkraften können. Begräbnisse bei den Palästinensern sind jeweils Anlass zu patriotischen Gefühlsausbrüchen und häufig zu erneutengewalttätigen Demonstrationen. Die Beerdigungen von Toten auf israelischer Seite führen in der Öffentlichkeit eher zu einem Überdenken der Situation. Im Falle von Südlibanon bewirkten die Verluste schliesslich einen unilateralen Abzug der Truppen aus dem Grenzstreifen. Ministerpräsident Barak wird auch hier bald einen Ausweg ausdem Dilemma finden müssen, denn die aus oppositionellen Kreisen ertönenden Rufe nach einer schnellen militärischen Lösung werden immer lauter. Allerdings beschloss das Sicherheitskabinett am Freitag, wie schon einen Tag vorher vermutet, vorerst keine Vergeltungsmassnahmen. Barak wurde jedoch bevollmächtigt, im geeigneten Augenblick zuzuschlagen, ohne eine vorherigeZustimmung des Kabinetts einzuholen zu müssen. Der frühere Beschluss des Sicherheitskabinetts zum vermehrten Einsatz verdeckter Einheiten wurde allerdings schon realisiert. In der Donnerstagnacht konnten als Araber getarnte israelische Soldaten drei Palästinenser festnehmen - angeblich führende Mitglieder der paramilitärischen Tanzim -, die laut Angaben des Militärsprechers in jüngster Zeit in zahlreiche Anschläge gegen Israeli verwickelt gewesen sein sollen.

Im Weiteren beschloss das Sicherheitskabinett einen Versuch, den am Sonntag beginnenden islamischen Fastenmonat Ramadan zur Wiederherstellung der Ruhe zu nutzen. Unter anderem wird erwogen, den Zugang zu den islamischen heiligen Stätten auf dem Tempelberg in Jerusalem für Gläubige aller Altersstufen zu gestatten. In der Annahme, dass ältere Familienväter zu Zurückhaltung neigen, setzte die israelische Polizei zubesonders gespannten Zeiten jeweils ein Mindestalter von 45 Jahren für den Zugang zum «Haram ash-Sharif» fest.

Zwei weitere Palästinenser erschossen

Nablus, 24. Nov. (afp) Israelische Soldaten haben am Freitag im Westjordanland zwei weitere Palästinenser erschossen. Bei Auseinandersetzungen in Kalkilija im Norden des Westjordanlandes wurde nach Spitalangaben ein 20-jähriger Mann von einer Kugel ins Herz getroffen. Mindestens zwei Palästinenser wurden verletzt. Die israelische Armee erklärte, die Soldaten hätten lediglich auf eine gewalttätige Demonstration reagiert. In der Nähe der Stadt Jenin, ebenfalls im Norden des Westjordanlandes, erschossen Israeli nach Angaben von Ärzten einen weiteren Palästinenser. Weiter erlagen zwei in den vergangenenTagen verwundete Palästinenser ihren Verletzungen. Bei den seit Ende September andauernden Unruhen sind bereits 274 Personen ums Leben gekommen.