junge Welt, 25.11.2000

Kurze Kindheit

Israelischer Scharfschütze: »Kinder ab zwölf dürfen erschossen werden«

Nach einem Aufenthalt in den besetzten palästinensischen Gebieten verlangte kürzlich die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wegen des brutalen Vorgehens der israelischen Armee eine Untersuchung in bezug auf mögliche Kriegsverbrechen. Die US-amerikanische Vereinigung »Physicians for Human Rights« (Ärzte für Menschenrechte) warf der israelischen Armee vor, absichtlich und gezielt auf die Köpfe steinewerfender palästinensischer Jugendlicher zu schießen. In deutschen Medien wird indes bisweilen gerne das Bild gezeichnet, Palästinenser würden ihre Kinder an die Frontlinien und damit in den möglichen Tod schicken, um so Märtyrer für die Intifada zu produzieren.

Unter dem Titel »Nicht schießen, bevor Du nicht gesehen hast, daß sie älter als zwölf sind« veröffentlichte die israelische Tageszeitung Haaretz in dieser Woche ein ausführliches Interview mit einem Scharfschützen der israelischen Armee. Haaretz-Autorin Amira Hass führt ihren Gesprächspartner wie folgt ein: »Er weiß nicht, wie viele Kinder durch die Gewalt in den letzten zwei Monaten getötet worden sind, aber er ist sich sicher, daß die Armee >jedes Kind erschießt, das erschossen werden muß<. Soldaten wie er kann man an allen Militärposten in der West Bank und in Gaza finden. Er ist so alt wie viele von jenen, die sich mit der israelischen Armee anlegen. Er lächelt, er ist scheu, aber aufrichtig. Er hat eine Vorliebe für schöngeistige Themen.«

Der IDF-Scharfschütze betont gegenüber Haaretz, Anweisung zu haben, »keine Kinder zu ers chießen«. Auf Nachfrage stellt sich allerdings heraus, daß es durchaus unterschiedliche Vorstellung darüber geben kann, mit welchem Alter die Kindheit beendet ist.

Frage: »Haben Sie Kinder erschossen?«

Antwort: »Keiner der Scharfschützen hat Kinder erschossen.«

Frage: »Aber es hat trotzdem Fälle gegeben, in denen Kinder getroffen, verwundet oder durch Kopfschuß getötet wurden. Oder waren das Fehler?«

Antwort: »Wenn es Kinder waren, dann waren es Fehler«.

Frage: »Reden sSie (die Offiziere) darüber?«

Antwort: »Sie reden viel mit uns darüber. Sie verbieten uns, auf Kinder zu schießen.«

Frage: »Wie sagen sie das?«

Antwort: »Du darfst kein Kind erschießen, das jünger als zwölf ist!«

Frage: »Das heißt, daß es bei Kindern von zwölf und älter erlaubt ist?«

Antwort: »Zwölf und älteren ist erlaubt. Dann ist er kein Kind mehr. Dann hat ein Junge bereits sein Bar Mitzwah. Oder so was Ähnliches. Zwölf und älter, dann dürfen wir schießen. So sagen sie uns das.«

Frage: »Also nochmals: Zwölf und älter und ihr dürft Kinder erschießen?«

Antwort: »Ja, weil die dann nicht mehr wie Kinder aussehen, so ist das definiert«.

Frage: »Im internationalen Recht gilt als Kind, wer bis zu 18 Jahren alt ist.«

Antwort: »Bis 18 Jahre noch ein Kind?«

Frage: »Ja, und nach der IDF sind es zwölf Jahre?

Antwort: »Ja, so sagt es die IDF ihren Soldaten. Aber ich weiß nicht, ob die IDF das auch so zu den Medien sagt.«

An anderer Stelle wird die Frage: »Ist es einfach, auf den Kopf zu schießen«, von dem Scharfschützen bejaht, denn »die Jungs, die Molotow-Cocktails werfen, oder sogar schießen, stoppen instinktiv für einige Sekunden, bevor sie werfen oder schießen. Wenn der Junge stoppt, dann ist der Kopf kein Problem, selbst wenn man weit weg ist.« Ob die Scharfschützen den Befehl bekommen, auf den Kopf zu zielen, will Haaretz wissen? Das sei ganz selbstverständlich, war die Antwort, denn »wenn sie einem Scharfschützen den Befehl geben zu feuern, dann beabsichtigt der, den Kopf zu treffen. Denn wenn ein Scharfschütze schießt, dann schießt er, um zu töten. Es sei denn, daß man spezielle Order bekommt, in die Beine zu schießen, aber in diesem Krieg ist das nicht oft vorgekommen.«

Der Scharfschütze lobt an anderer Stelle die Zurückhaltung der Armee: »Die IDF schießt sehr selektiv, sie erschießt nur die, die erschossen werden müssen - wenigstens in 90 Prozent der Fälle. Das soll heißen, jeder, der einen Molotow-Cocktail wirft oder der jemand anderen töten könnte, wird von uns erschossen.« Allerdings gesteht der israelische Scharfschütze auch ein, daß es Soldaten und Einheiten bei der IDF gibt, die »sehr auf das Schießen erpicht sind«. Diese Art der »mangelnden Zurückhaltung«, dieses »Verlangen zu schießen«, könnte sich zu einem ernsten Problem für die IDF entwickeln.

Rainer Rupp

*** Das Interview kann unter folgender Webseite im Original gelesen werden: http://www3.haaretz.co.il/eng/ scripts/article.asp?mador=5& datee=11/20/00&id=101314