Die Presse (A), 25.11.2000

Neue Eiszeit zwischen der EU und dem Beitrittskandidaten Türkei

Ankara wirft der EU kolonialistisches Verhalten vor und zieht sich nun sogar aus den Zypern-Gesprächen zurück.

Eine Analyse von WOLFGANG BÖHM

WIEN. Die Begeisterung ist verflogen. Knapp ein Jahr, nachdem die Türkei beim EU-Gipfel in Helsinki den Status eines Beitrittskandidaten erhalten hat, sind die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara am Tiefpunkt. Der türkische Außenminister Ismail Cem wirft der EU "kolonialistisches Verhalten" vor, weil Bedingungen für die geplante Beitrittspartnerschaft formuliert wurden, die für Ankara unzumutbar seien. Ministerpräsident Bülent Ecevit beklagte sich sogar schriftlich bei den EU-Regierungschefs und drohte mit einer "Neubewertung" der Beziehungen zur EU. Am Freitag setzte der türkische Volksgruppenführer in Zypern, Rauf Denktas, die UN-Gespräche über eine Lösung für die geteilte Insel aus. Ecevit sprach von "Zeitvergeudung". Die Türkei fühlt sich von der EU an der Nase herumgeführt. Vor einem Jahr schien nach langem Ringen und mit Intervention der USA endlich der Weg zur Mitgliedschaft geebnet, nun werden Bedingungen aufgestellt, die aus innenpolitischen Gründen für die Türkei derzeit unerfüllbar sind. Zur Verstimmung hatte bereits der Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Erweiterung beigetragen, in dem die Zulassung kurdischen Fernsehens und die Einführung eines kurdischen Schulunterrichts verlangt wurden. Als nun auf Drängen der griechischen Regierung auch noch ein aktives Bemühen Ankaras bei der Lösung der Zypern-Frage und im Territorialstreit in der Ägäis als Voraussetzung für die Beitrittspartnerschaft gefordert wurde, platzte der Regierung von Bülent Ecevit der Kragen. Der griechische Außenminister Giorgos Papandreou hatte diese Woche beim Rat der EU-Außenminister die geplante Beitrittspartnerschaft mit der Türkei blockiert, um Ankara Zugeständnisse für Zypern und im Territorialstreit in der Ägäis abzuringen. Das vorbereitete Papier sei laut einem EU-Diplomaten bereits für die Türkei "kaum akzeptabel" gewesen, mit den zusätzlichen Forderungen wurde eine Eskalation provoziert. Zur weiteren Verstimmung hat eine Resolution des Europaparlaments beigetragen, in der die Türkei des Völkermords an den Armeniern im Ersten Weltkrieg beschuldigt wird. Die türkische Führung scheint über die Forderungen des Erzfeinds Griechenland nicht überrascht, zeigt sich aber enttäuscht, daß sich kein EU-Mitgliedsstaaten auf ihre Seite geschlagen hat. Beim EU-Außenministertreffen am 4. Dezember soll nun erneut ein Versuch gestartet werden, die Beitrittspartnerschaft zu einem Abschluß zu bringen. Daß es der türkischen Regierung allerdings mit ihren Drohungen nicht allzu ernst ist, zeigt die Tatsache, daß sie gleichzeitig angekündigt hat, die Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik zu verstärken. Unter den 15 Nicht-EU-Staaten, die sich an der europäischen Krisentruppe beteiligen wollen, kündigte die Türkei den zahlenmäßig größten Beitrag an. Sie will bis zu 5000 Soldaten für internationale Kriseneinsätze bereitstellen. Versprochen wurden auch rund 40 Kampfflugzeuge vom Typ F-16, ein U-Boot sowie einige Versorgungsschiffe.