Frankfurter Rundschau, 25.11.2000

"Viele haben gewusst, dass es kein Unfall war"

Sebnitzerin erzählt von Mord-Plakaten nach Josephs Tod

Von Bernhard Honnigfort (Dresden)

Als der kleine Joseph am 13. Juni 1997 im Freibad von Sebnitz starb, stand Elke Borrmann mit ihrem damals sechsjährigen Sohn Marc am Eingang. Marc und Joseph waren Freunde, gingen in denselben Kindergarten. Marc sei am Eingang durchgeschlüpft, auf die Wiese gerannt und habe das tote Kind gesehen, sagt die Mutter. Erschüttert seien beide sofort nach Hause gegangen.

Elke Borrmann, 29 Jahre alt und Mutter von fünf Kindern, sagt, sie habe am nächsten Tag gesehen, dass Plakate beim Freibad hingen. Blumen waren am Eingang abgelegt worden. Sie selbst habe auch ein Sträußchen hingelegt. Viele Plakate seien es gewesen, auf ihnen stand: "Ihr Mörder seid schuld am Tod von Joseph Abdulla." Sie bestätigt im Telefongespräch, was sie der Mutter von Joseph, Renate Kantelberg am 17. April dieses Jahres schriftlich erklärte. Danach gab es die Plakate und sie wurden schnell wieder entfernt. Sie ist sich sicher: Irgendetwas Grässliches war an jenem Frühlingstag vor drei Jahren im Freibad geschehen. Der Junge der deutsch-irakischen Familie sei nicht einfach so ertrunken.

Es besteht der Verdacht, der Junge sei geschlagen, mit einem Elektroschocker misshandelt und anschließend ertränkt worden. Anfang der Woche nahm die Polizei zwei junge Männer und eine junge Frau fest. Nachdem der Fall vor zwei Jahren mangels Anfangsverdachts eingestellt worden war, wird er jetzt wieder aufgerollt. Die Eltern ermittelten auf eigene Faust, sammelten Aussagen und übergaben ihre Ergebnisse den Ermittlern.

Sofort nach dem Tod des Kindes seien Gerüchte durch die Stadt gegangen, erzählt Borrmann. Ein einfacher Badeunfall eines plantschenden Kindes? "Viele haben es vermutet, viele haben es gewusst, dass es kein Unfall war", sagt die Frau. Das Gerede sei "extrem" gewesen. Sie kenne einen Polizisten, der damals in Sebnitz Dienst tat und mit dem sie gesprochen habe. "Er hat selbst nicht an einen Badeunfall geglaubt", erzählt sie. Der Tod des Jungen sei lange Stadtgespräch gewesen.

Am Donnerstagabend hat der Sebnitzer Oberbürgermeister Mike Ruckh (CDU) die Bürger zu einer Lichterkette am 3. Dezember aufgerufen. Wer damals weggesehen habe, habe sich mitschuldig gemacht, sagte er. Eine rückhaltlose Aufklärung der Todesumstände forderte der Rathauschef der 10 000 Einwohner zählenden Stadt an der tschechischen Grenze.

Elke Borrmann ist überzeugt, dass das Gerede über den Tod von Joseph damals auch das Rathaus erreicht hat. Diejenigen, die davon sprachen, dass es kein Badeunfall gewesen sei, seien jedoch als "Spinner" behandelt worden. "Das wurde einfach so abgetan."

Oberbürgermeister Ruckh hat die Staatsanwaltschaft Pirna angegriffen, die 1998 die Ermittlungen eingestellt hatte. Schlimm sei es, dass erst jetzt auf Betreiben der Eltern neue Nachforschungen angestellt worden seien, so Ruckh. Am Freitagmorgen ging im Rathaus eine anonyme Bombendrohung ein. Gefunden wurde jedoch nichts.

Mit den Rechten, sagt Borrmann, sei es schlimm in Sebnitz. In der alten Stadt, zu DDR-Zeiten berühmt für seine Kunstblumenfabrikation, sitzt ein NPD-Mann im Stadtrat. Die Sächsische Schweiz ist die Hochburg der SSS, einer Skinheadbewegung von etwa 100 jungen Männern, die als gut organisiert, militant und gewaltbereit gilt. Bei Hausdurchsuchungen in der rechten Szene im vergangenen Juni entdeckte die Polizei dort Sprengstoff und Waffen. "Ich gehe abends nicht mehr auf die Straße", sagt Elke Borrmann. "Ich bin froh, wenn meine Kinder drinnen sind. Man wird angepöbelt."

Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) hat am Freitag seinen Terminplan umgeschmissen und ist nachmittags nach Sebnitz geflogen, um sich beim Oberbürgermeister zu informieren. Sollte der Junge wirklich vor den Augen von Badegästen umgebracht worden sein, ohne dass ein Mensch eingeschritten sei, es wäre "entsetzlich und grauenhaft", sagte Biedenkopf. Sollten die Berichte über den Verlauf auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprechen, in Sebnitz wäre Ungeheuerliches geschehen. Menschen, die an dem Todestag irgendetwas gesehen hätten, sollten sich als Zeugen melden, forderte der Ministerpräsident. Niemand, der etwas wisse, dürfe schweigen.

Vor der Apotheke der Eltern des toten Jungen zogen am Donnerstagabend junge Rechte auf, die vor anwesenden Journalisten herumpöbelten.