junge Welt, 25.11.2000

Wer regiert in Sebnitz?

Bombendrohung gegen Rathaus und Naziaufmarsch vor Elternhaus des 1997 getöteten Jungen

Nach der Veröffentlichung der Bild-Zeitung über den Tod des sechsjährigen Joseph Abdulla am Donnerstag wollten Faschisten in Sebnitz offenbar demonstrieren, wer im Ort das Sagen hat. Am Freitag morgen ging eine anonyme Bombendrohung im Rathaus der Stadt ein, und eine Gruppe von Neonazis marschierte vor dem Haus der Familie des Jungen auf.

Der Sohn einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters soll vor drei Jahren im Freibad der Stadt von einer Horde Neonazis gequält, mit einer Droge betäubt und dann ertränkt worden sein - in Anwesenheit von etwa 300 Badegästen. Erst nachdem die Eltern zahlreiche Beweise für ihre Vermutung lieferten, daß ihr Kind Opfer eines Verbrechens geworden ist, nahm die Dresdner Staatsanwaltschaft den Fall wieder auf. Die Ermittlungen waren vor zwei Jahren eingestellt worden.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der PDS-Fraktion im Dresdner Landtag, Andre Hahn, verlangte am Freitag eine lückenlose Aufklärung der Vorgänge. Sollte sich dabei herausstellen, daß »fahrlässig oder vorsätzlich« nicht in Richtung einer rechtsextremistisch motivierten Gewalttat ermittelt wurde, stelle sich die Frage nach der Verantwortung der betreffenden Staatsanwaltschaft beziehungsweise des Generalstaatsanwaltes von Sachsen.

Der Regierung von Kurt Biedenkopf (CDU) warf Hahn vor, rechtsextremistische Vorfälle in der Vergangenheit verharmlost zu haben. Er verwies auf Biedenkopfs Aussage von vor wenigen Wochen, in Sachsen habe es noch keine Toten gegeben. Nachweislich seien in den vergangenen Jahren in Sachsen sieben Menschen von Neonazis umgebracht worden. Nach Angaben von Hahn haben sich die Eltern des getöteten Jungen schon vor rund einem Jahr an die Justizbehörden mit der Bitte um Aufklärung des Falles gewandt.

Aufklärung möglicher Versäumnisse bei den Ermittlungen zum Tod des Sechsjährigen hat auch die Polizeigewerkschaft (GdP) verlangt. Sollten sich die Vorwürfe gegen die Polizei bestätigen, müsse es disziplinarrechtliche und strafrechtliche Konsequenzen geben, sagte der Landesvorsitzende Reinhard Gärtner am Freitag in Dresden. Der amtierende GdP- Vorsitzende Konrad Freiberg bezeichnet den mutmaßlichen Mord als »unfaßbar«. Es treibe einem »die Scham ins Gesicht, wenn man sieht, daß die Mutter selbst ermitteln mußte«, so Freiberg. Die Tat mache deutlich, wie groß »die Mauer des Schweigens« und »das Ausmaß der Angst« vor Rechtsextremen sei.

Die SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag erhebt schwere Vorwürfe gegen die Justiz. Nach Worten von Fraktionschef Thomas Jurk war Justizminister Steffen Heitmann (CDU) bereits wenige Monate nach der Tat darüber informiert, daß es sich nicht um einen Unfall, sondern möglicherweise um ein Verbrechen gehandelt habe. Der mittlerweile verstorbene SPD-Landtagsabgeordnete Joachim Richter habe dies Heitmann damals in einem Brief mitgeteilt. Konsequenzen seien daraus nicht gezogen worden.

Unterdessen teilte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Dresden, Claus Bogner, mit, daß zwei der drei wegen Mordverdachts verhafteten Personen jegliche Tatbeteiligung leugnen. Der 25 Jahre alte Verdächtige und die 21jährige Frau haben ein Alibi angegeben, das derzeit überprüft werde. Zu den Aussagen des dritten Tatverdächtigen wollte Bogner noch keine Angaben machen. Nach Angaben des Sprechers der Generalstaatsanwaltschaft in Dresden, Helmut Renz, gehört einer der drei Verdächtigen möglicherweise der rechtsextremen Organisation »Skinheads Sächsische Schweiz« (SSS) an.

Die Gemeinde Sebnitz will am 3. Dezember mit einer Lichterkette an den Tod des sechsjährigen Jungen am 13. Juni 1997 erinnern. Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye (SPD) reagierte, wie zu erwarten, mit »Erschütterung und Betroffenheit« und appellierte an die Zivilcourage der Bürger, da Rechtsextremismus mit staatlichen Mitteln allein nicht bekämpft werden könne. Biedenkopf flog nach Sebnitz und erklärte, das sächsische Kabinett werde sich am Dienstag mit dem Fall beschäftigen.

(ddp/AP/AFP/jW)