junge Welt, 25.11.2000

Interview

Warum hungern Sie in Deutschland?

jW sprach mit Gülten Sesen, Vorsitzende des anatolischen Volkskulturvereins e. V. Berlin

(Gülten Sesen ist aus Solidarität mit den türkischen Gefangenen im Todesfasten ebenfalls am 21. November in den unbefristeten Hungerstreik getreten)

F: Anfang der Woche sind deutschlandweit etwa 50 Anhängerinnen und Anhänger türkischer linker Organisationen in den unbefristeten Hungerstreik getreten. Weshalb?

Am 20. Oktober traten über 1 000 politische Gefangene in den türkischen Knästen in Hungerstreik. Ihr Protest richtet sich gegen die Einführung der »weißen Folter«, der sogenannten Isolationshaft in den türkischen Gefängnissen. Wir, als die Angehörigen und Unterstützer der politischen Gefangenen, wollen mit unserem Hungerstreik gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen, unter denen unsere Töchter und Söhne in den Knästen des türkischen Regimes eingesperrt sind, protestieren. Uns geht es darum, deren Forderungen der demokratischen Öffentlichkeit zu vermitteln. Wir wollen durch europaweite Proteste das türkische Regime zwingen, den revolutionären Gefangenen ihre Würde wiederzugeben, die ihnen durch Folter und Isolation genommen wurde.

F: Anders als die Gefangenen haben Sie draußen viel Aktionsspielraum. Warum haben Sie gerade den Hungerstreik gewählt?

In der Türkei existiert unter den Linken eine lange Tradition des Gefangenenwiderstands. Seit dem Militärputsch von 1980 wehren sich die revolutionären Gefangenen mit verschiedenen Aktionsformen gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen in den Knästen. Das Todesfasten ist für uns die höchste Form des Widerstands. Für die Gefangenen ist es das letzte Mittel. Sie setzen ihr Leben ein, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie werden eher sterben, als ihre Identität preiszugeben. Wenn mehr als tausend Menschen in den Gefängnissen für menschenwürdige Haftbedingungen im Todesfasten sind und wir draußen öffentlich protestieren und Unterstützung leisten, erhöht sich der Druck auf die Verantwortlichen für die Gefängnisse.

F: Wie wollen Sie Ihren Hungerstreik, Ihren Protest öffentlich machen?

Wir werden am Sonntag unser Hungerstreikzelt auf dem Berliner Alexanderplatz aufbauen. Dort wollen wir dann, wenn wir die erforderliche Erlaubnis erhalten haben, mindestens einen Monat lang unseren Hungerstreik öffentlich machen. An unserem Zelt wird man durch eine Unterschrift oder eine Spende unsere Kampagne gegen die Isolationshaft in der Türkei unterstützen können. Auch in anderen deutschen und europäischen Städten wird es von uns Hungerstreikzelte auf öffentlichen Plätzen geben. Zum Beispiel sind in Köln, Ulm und London schon seit dem 6. November insgesamt 20 Genossinnen und Genossen in unbefristeten Hungerstreiks. Des weiteren wird es demnächst verschiedene Kundgebungen, Demonstrationen und Veranstaltungen zum Todesfasten geben. Wie es weitergeht, wird die Lage in den Gefängnissen zeigen. Um so länger das Todesfasten dauert, um so mehr Widerstand wird sich dagegen draußen entwickeln. Wir sind zuversichtlich, daß unsere Kampagne genug Dynamik entwickelt, um den Gefangenen in ihrem gerechten Kampf den Rücken zu stärken. Ich kann nur noch mal alle antifaschistischen, demokratischen und fortschrittlichen Menschen aufrufen, sich mit den politischen Gefangenen im Folterstaat Türkei zu solidarisieren.

Interview: Arian Wendel