Süddeutsche Zeitung, 24.11.2000

Die Stunde der Radikalen

Islamistische Palästinenser-Organisationen wollen die Intifada zu einem Guerillakrieg ausweiten / Von Heiko Flottau

Ist es wirklich schon so weit? Nach Meinung von Ariel Scharon, des Führers der israelischen Rechtspartei Likud, herrscht Krieg: "Arafat und die palästinensische Autonomiebehörde haben Israel den Krieg erklärt", sagte Scharon in der jüdischen Siedlung Kfar Darom im Gazastreifen. Im Krieg aber müsse man handeln wie im Krieg, folgerte er und forderte zur Ermordung des palästinensischen Sicherheitschefs im Gazastreifen, Mohammed Dachlan, auf.

Ob der Krieg nun offiziell erklärt wurde oder nicht, spielt heutzutage keine Rolle mehr. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die die Palästinenser "Al-Aksa-Intifada" nennen, weil sie durch den Auftritt Ariel Scharons vor der Al-Aksa-Moschee Ende September ausgelöst wurden, haben längst das Stadiu m halbfriedfertiger Proteste verlassen und sind zu einem Krieg nahöstlicher Art mutiert: Palästinensische Freischärler schießen auf jüdische Siedler, Siedler hindern Palästinenser an der Oliven ernte, die israelische Armee fällt ganze Olivenbaum-Plantagen und exekutiert von Kampfhelikoptern und Panzern aus Mitglieder von Jassir Arafats Fatah-Gruppe - oder solche, die sie dafür hält. Am selben Tag dann explodiert im nordisraelischen Chadera eine Bombe, die zwei Israelis tötet und 50 verletzt. Der Kreis der Gewalt hat sich geschlossen.

Es herrscht Krieg. Befragt man Palästinenser, die während der ersten Intifada (1987 bis 1993) Steine warfen, dann bekommt man eine eindeutige Antwort - auch von denen, die noch bis vor kurzem von Frieden und Versöhnung mit den Israelis sprachen: "Wenn Arafat uns heute zu den Waffen riefe, wären wir sofort dabei.

Das ist die Stunde der Radikalen. Und es ist die Stunde einer neuen militärischen Taktik. Seit dem Rückzug der Israelis aus dem Südlibanon im Mai dieses Jahres gilt der von der Hisbollah gewonnene Guerillakrieg gegen Israel vielerorts als Erfolgsmodell. Gewiss habe die Hisbollah das militärische Ungleichgewicht zwischen Arabern und Israelis nicht verändert, schrieb der libanesische Professor Wajih Kansou in der Beiruter Tageszeitung Al-Nahar . Aber die Hisbollah habe eine arabische Stärke aufgedeckt, die ein halbes Jahrhundert verschüttet gewesen sei - die Fähigkeit, einen Guerillakrieg zu führen. Israel könne einen konventionellen Krieg gegen arabische Staaten sehr schnell gewinnen. Einen langen blutigen Guerillakrieg könne sich das Land wegen der vielen eigenen Opfer dagegen nicht leisten. Die Hisbollah-Kämpfer haben Krieg in ihrer Heimat geführt. Auch die Palästinenser kämpfen heute auf ihrem Land um ihr Land. Vorbei sind die Zeiten, in denen Jassir Arafat von Jordanien oder vom Libanon aus gegen Israel zu Felde zog.

Noch ein anderer Aspekt des Hisbollah-Krieges scheint Schule zu machen. Der libanesische Staat duldete die Hisbollah-Privatarmee und ihren Kampf. Indirekt hatte die Hisbollah von der Regierung in Beirut eine Lizenz für diesen Krieg. Ähnlich könne es auch in Palästina funktionieren, meint Professor Kansou. Dort repräsentiert die palästinensische Autonomiebehörde den Staat. Zahlreiche Privatmilizen, Mitglieder der palästinensischen Fatah-Bewegung, islamistische Gruppen wie Hamas und Freischärler führen den Guerillakrieg - indirekt lizenziert vom Vorsitzenden der Autonomiebehörde, von Jassir Arafat. Dieser Krieg wird, so wollen es die palästinensischen Kämpfer, so lange dauern, bis Israel die besetzten Gebiete verlassen hat - so wie den Südlibanon.

Einen wesentlichen Unterschied gibt es: Israel hatte nie vor, den Südlibanon zu annektieren, keine einzige Siedlung wurde dort gebaut. Anders in "Judäa und Samaria", wie das Westjordanland in der Bibel heißt. Etwa 150 Siedlungen und 160 000 Siedler demonstrieren Israels Anspruch auf das Territorium.

Die Gewalt hat fast vergessene palästinensische Fraktionen wieder ins politische Rampenlicht geführt. Die "Volksfront für die Befreiung Palästinas " (PFLP) und die "Demokratische Volksfront für die Befreiung Palästinas (DFLP), beide in Damaskus ansässig, sehen die Intifada bereits in einen nationalen Befreiungskrieg münden. Die palästinensische Bevölkerung habe offensichtlich die erniedrigenden Verträge von Oslo abgelehnt, heißt es in Damaskus. Nayef Hawatmeh von der DFLP argumentiert, neun Jahre Verhandlungen seit der Konferenz von Madrid 1991 hätten den Palästinensern lediglich 18 Prozent des ihnen zustehenden Landes gebracht. "Ich habe die Autonomiebehörde aufgefordert, den Menschen Waffen zu geben, damit sie sich gegen israelische Besatzer und Siedler verteidigen können und damit sie alle Demarkationslinien in brennende Fronten verwandeln können", sagt Hawatmeh.

Schon brennt es an vielen Fronten. Die Rückkehr an den Verhandlungstisch wünschen viele Diplomaten. Die Menschen auf den Straßen Ramallahs und Gazas wünschen Verhandlungen nur, wenn das Ergebnis der diplomatischen Bemühungen eine schnelle Staatsgründung ist.