Kieler Nachrichten, 24.11.2000

"Deutschland gehört nicht mehr nur den Deutschen"

Fortsetzung: Er hat lange für dieses Ziel gekämpft. Keine neuen Hotels oder Flugverbindungen waren ihm so wichtig. Ja, er sei zufrieden, dass Deutschland endlich ein Einwanderungsland wird. Zumindest wird jetzt darüber diskutiert - auch in der Politik. "Da habe ich eine Menge Erfahrung einzubringen", sagt der hünenhafte Mann hinter dem riesigen Schreibtisch aus dunklem Holz.

Vural Öger, Inhaber des größten Türkei-Reiseveranstalters, hält sich für unpolitisch. Vielleicht einer der Gründe für Innenminister Otto Schily, ihn, den türkischgeborenen Geschäftsmann mit deutschem Pass, in die Einwanderungskommission zu berufen. "Ich bin ein Bürger dieses Landes". Und so versteht der 58-Jährige auch seine Aufgabe in der Kommission von Rita Süssmuth, in der er jetzt als einziger Immigrant alle zwei Wochen in Berlin über die Zukunft unserer Gesellschaft diskutiere. Dabei hebt er bewusst "unsere Gesellschaft" hervor.

In Deutschland lebt Öger seit 1961, als er als junger Ingenieur-Student nach Berlin kam, dort die Unruhen des Sechziger Jahre miterlebte und auch die ersten fremdenfeindlichen Erfahrungen machte. "Als Türke durfte ich in die Disko, die Italiener nicht. Und die Spanier haben die Straßen gefegt. Und heute?"

Schnell ist Öger wieder in der Gegenwart. Die Integration war für den erfolgreichen Vorzeigeunternehmer nie schwierig. "Aber es ist unfair, erste Menschen in ein Land rein zu lassen und sie dann als Bürger zweiter Klasse zu behandeln", sagt er und fragt ratlos: "Welche Integrationshilfe hatte denn ein anatolischer Bauer erhalten?" Eine Folge dieser Diskriminierung sei der wachsende Fanatismus unter vielen Türken in Deutschland. Umso mehr stört ihn der Begriff "Leitkultur". Er zieht kräftig an seinem kubanischen Zigarillo und sagt zögernd: "Der Ausdruck ist einfach unglücklich gewählt, ja zielt auf Wählerstimmen ab." Doch dann ballt sich sein Ärger hinter dichten Raucherqualm. "Wieso muss man eine vorgeschriebene Kultur akzeptieren? Wir sind doch keine homogene Gesellschaft mehr", fügt er hinzu. Und was habe ein Geschäftsmann, der auf Sylt seine Austern isst, mit einem bayrischen Bergbauern gemein?

Öger holt tief Luft. Ein planloses Öffnen der Grenzen wäre für ihn Unsinn. Dafür müsse ein Einwanderungsgesetz genaue Regeln und Pflichten aufstellen, die eine Eingliederung erleichtern. Seine Vorstellung wäre das kanadische Modell, das in einem Gremium klare Quoten für Einwanderer aufstellt. Und jedes Land habe das Recht, die Menschen rein zu lassen, die es haben wolle - aus wirtschaftlichen und demographischen Gründen, denkt Öger ganz eigennützig. "Ungelernte Bauern brauchen wir nicht mehr", sagt er. Dabei zitiert er den Satz des US-Präsidenten Bill Clinton: "Eine neue Wirtschaft braucht neue Amerikaner." Dieser Boom, so Öger, müsse Vorbild für Deutschland sein, eine Nettozuwanderung von 800000 Menschen pro Jahr sei notwendig. "Und ein Einwanderer muss Deutsch können und das Grundgesetz akzeptieren", setzt er energisch hinzu. "Aber wieso muss er deswegen eine vorgeschriebene Kultur akzeptieren?"

Zuvor benötige die Gesellschaft aber einen Konsens. Denn ohne das Volk werde es nicht funktionieren. Umso schädlicher sei die Leitkultur-Debatte, die die Fronten jetzt schon verhärtet habe. Dass es im nächsten Jahr schon zu einem Einwanderungsgesetz kommen wird, glaubt er daher nicht.

Aber schon jetzt steht für Vural Öger fest: Deutschland gehöre nicht mehr allein den Deutschen. "Wir sind vielfältiger geworden - eben multinational", betont er. "Deswegen bricht doch nicht gleich die gesellschaftliche Ordnung zusammen?"

Solche Ängste hört er auch immer wieder, wenn es um den EU-Beitritt der Türkei geht oder, wie er selbst formuliert, die "Angst vor der Invasion aus Anatolien". Öger glaubt nicht daran. Sein größter Wunsch ist daher die schnelle Aufnahme der Türkei. Selbst Deutschland könne von diesem riesigen Absatzmarkt profitieren. "Es gibt doch neben den Freundschaften unter den Ländern, auch gegenseitige Vorteile", meint er. Seine Vision: Wenn es der türkischen Gesellschaft besser gehe, lasse der Migrationsdruck nach. Dann würden auch viele Türken zurück gehen. "In der Türkei gibt es eine funktionierende Marktwirtschaft und Demokratie", lobt er die Entwicklung, gerade nach dem Kandidatenstatus für den EU-Beitritt.

Und was ist mit den Menschenrechten? Unterdrückung der Kurden? Öger erkennt die Problematik. Klar, müsse die türkische Regierung da noch "einiges machen". Aber nach einer Übergangsfrist von zehn Jahren werde die Türkei auch auf diesem Gebiet soweit sein.

Eine Beitrittsablehnung seines Geburtslandes wäre jedoch ein Rückschritt. Ja, ein Bollwerk gegen den Nahen Osten verschenkt, wie er meint. Dann würden die alten osmanischen Träume wieder erscheinen, sagt er und zeigt auf eine Karte hinter seinem Schreibtisch, die das Osmanische Reich zeigt.

Öger ist sich sicher, dass die Zeit für die Türkei arbeitet. Seine Arbeit aber liegt jetzt in Deutschland - für die Zukunft der ausländischen Mitbürger.

Olaf Albrecht