Neue Zürcher Zeitung (CH), 23.11.2000

Augenschein in Beit Sahur und Beit Jala

Eine palästinensische Führung für Diplomaten

Ein Augenschein in den palästinensischen Ortschaften Beit Sahur und Beit Jala zeigt die Zerstörungen, die nach den Beschiessungen des Quartiers Gilo bei israelischen Vergeltungsschlägen entstanden. Allerdings bemühte sich die Armee grösstenteils mit Erfolg, Opfer unter der Bevölkerung zu vermeiden.

gsz. Beit Sahur, Mitte November

Das Orient House in Ostjerusalem, das als eine Art inoffizielles Aussenministerium der palästinensischen Behörde fungiert, hat Ende vergangener Woche europäische Diplomaten zu einer Besichtigung der Beschädigungen in den beidenOrtschaften Beit Jala und Beit Sahur im autonomen palästinensischen Gebiet eingeladen. DieBeschädigungen entstanden bei massiven Beschiessungen durch israelische Maschinengewehre und Kampfhelikopter, nachdem aus den Ortschaften mehrmals gegen israelische Ziele, namentlich gegen den Stadtteil Gilo in Jerusalem und gegen eine Militärbasis, geschossen worden war. Einige Journalisten schlossen sich einer Tour an, die von Faisal Husseini, dem Minister für die Angelegenheiten Jerusalems in Arafats Kabinett, geführt wurde.

Die Bürger als Leidtragende
Beit Jala und Beit Sahur sind mehrheitlich von Christen bewohnte Städte, die 1995 in die palästinensische Autonomie entlassen worden sind. Die Bewohner unterhielten im Allgemeinen gute Beziehungen zu Israel, geschäftlicher und auch freundschaftlicher Art. Aus den jüngsten Zusammenstössen hielten sie sich und ihre Ortschaftenwo immer möglich heraus. Das galt bis zur Beschiessung Gilos aus Beit Jala. Israel antwortete mit Vergeltungsschlägen gegen die Richtung, aus der die Schüsse herrührten.

Im Südosten von Beit Sahur, hart an der Stadtgrenze, liegt eine israelische Militärbasis. Früherdiente sie der jordanischen Armee und lag in einiger Entfernung des Dorfes. Nach dem Sechstagekrieg und der israelischen Eroberung Cisjordaniens wuchs die Ortschaft und wurde zu einerStadt. Aber die weitere Entwicklung gegen Südosten ist durch die Basis beeinträchtigt. Dieser Stützpunkt wurde letztens von der Tanzim, einer paramilitärischen Organisation der Fath-Bewegung, mehrmals aufs Korn genommen. In den Nächten kamen Männer mit Gewehren, feuerten gegen die Basis und verschwanden wieder. Israel reagierte seinerseits mit geballten Beschiessungen, und die Bürger waren die Leidtragenden. Die Resultate bekommen die Diplomaten und wir jetzt zu sehen.

Das Haus des Arztes Dr. Sami Abu Farha liegt in einer gepflegten gutbürgerlichen Gegend. Man tritt in ein geräumiges, schön eingerichtetes Wohnzimmer. Ein Korridor führt in ein Kinderzimmer mit direkter Aussicht auf die Militärbasis. Es ist völlig zerstört. Auch von dem Badezimmer ist nur noch wenig übrig. Zerborstenes Glas liegt herum, die Mauer ist von Löchern durchsiebt. Wieso sein Haus aufs Korn genommen wurde, kann sich der Arzt nicht erklären. Es werde Monate dauern und Unmengen kosten, bis er den vorherigen Zustand wieder hergestellt habe.

Der nächste Halt ist beim Haus des Geschäftsmannes Adnan Yunis. Sein Gebäude befand sichzwar noch im Bau, doch versichert er den Zuhörern, dass es schon vollständig möbliert gewesen sei. Nun muss das Gebäude abgerissenwerden, denn die Stützpfeiler wurden schwer beschädigt. Die palästinensischen Schützen hätten nicht von seinem Haus aus geschossen, ruft Yunis aus, sondern von einem Feld nebenan. Warum beschossen die Israeli denn sein Haus? Wieso bestraften sie ihn? Fortan werde er die Schützen auffordern, sein Haus als Ausgangspunkt für ihre Attacken zu benützen, denn er selbst habe ja nichts mehr zu verlieren.

Verbrannte Polstermöbel
In dem Haus der Familie von Dr. Jonnie Matarweh lebten sieben Erwachsene und fünfzehnKinder. Im Wohnzimmer gibt es nur noch verkohlte Überreste des Hausrats. Das einzige Stück, das offenbar nicht vom Feuer ergriffen wurde, ist ein Porträt von Palästinenserführer Arafat. Man muss vermuten, dass es eben erst hingestellt worden ist. Der beissende Gestank verbrannter Polstermöbel hat sich auch zwei Wochen nach demAngriff noch nicht verflüchtigt. Einer der palästinensischen Begleiter meint, die Israeli hätten Napalm und Phosphor benützt. Die Wände sind schwarz von Russ, auch hier sind die Aussenmauern von Löchern durchsiebt. Zwei weitere, ähnlich zugerichtete Gebäude folgen. Bei dem einen ist ein Balkon halb weggeschossen, das andere ist teilweise eingestürzt. Insgesamt wurden in Beit Sahur 160 Wohnhäuser in Mitleidenschaft gezogen, zwölf von ihnen sind nicht mehr bewohnbar. 270 Erwachsene und 360 Kinder leben in Notunterkünften.

Weiter geht es nach Beit Jala, der von Palästinensern bewohnten Stadt gegenüber von Gilo.Hier wurden 220 Gebäude beschädigt. Drei Häuser müssen abgerissen werden. 25 Fahrzeuge wurden vollständig zerstört. Von einem der betroffenen Häuser hat man eine wunderschöne Aussicht auf das gegenüberliegende israelische Stadtviertel. Der Eingang ist relativ intakt, aber das Obergeschoss ist völlig zerstört. Glassplitter liegen herum, eine halbe Türe hängt aus den Angeln. Die Reste einer Rakete liegen auf der Veranda, und ein etwa vierzig Zentimeter grosses Loch in der Hauswand zeigt, wo sie ins Innere eindrang. Im Badezimmer zeugt eine Jacuzzi-Wanne davon, dass der Hausherr aus der Oberklasse stammt. Sein Haus werde er lange Zeit nicht bewohnen können, klagt er. Sein vierzehnjähriger Sohn mit dem Bürstenschnitt, der bei den Alterskollegen hüben und drüben heutzutage so modisch ist, scheint das Geschehen noch gar nicht richtig erfasst zu haben. Weiter geht es ins nächste Gebäude. Das traurige Bild ist immer das gleiche.

Drôle de guerre?
Die als Propaganda-Tour für Diplomaten angelegte Führung ist eindrucksvoll. Aber ein Aspekt kommt merkwürdigerweise nicht zur Sprache. Bei all den Klagen über die Verluste erwähnten die Obdachlosen kein einziges Mal einTodesopfer, nicht einmal Verletzte gab es offenbar bei den massiven israelischen Angriffen. Allerdings kamen bei einem gezielten israelischen Attentat in Beit Sahur ein palästinensischer Milizführer und zwei Unbeteiligte ums Leben. Die palästinensischen Gesprächspartner weichen aus, sobald sie auf diese Tatsache angesprochen werden. Zu einer Antwort gedrängt, erklären sie widerwillig, dass die Hausbewohner eben bei den ersten Anzeichen der kommenden Beschiessung ihre Wohnungen verlassen. Also gab es Vorwarnungen? Auch dazu wollen die Befragten keine klare Antwort geben. Dass die israelische Armee die Bürger vor Beschiessungen warnte, damit keine Menschen zu Schaden kämen, will hier niemand zugeben. Das Thema passt nicht so richtigin das Bild der «neuen Nazis», wie ein elegant gekleideter Herr aus dem Orient House die Soldaten jenseits der Grenze nannte.

Und doch ist es so. Israel liess den Bürgern von Beit Sahur und Beit Jala über verschiedene Kanäle Warnungen vor Beschiessungen zukommen. Und zur Sicherheit richteten sie offenbar dasMaschinengewehrfeuer zuerst auf die Gartenwände. Erst nachdem sich die jeweiligen Hausbewohner in Sicherheit begeben konnten, wurdendie Häuser mit Raketen unter Beschuss genommen. Die Tatsache, dass alle Hausbewohner die israelischen Angriffe überlebten und hier sind, um von ihren materiellen Verlusten Zeugnis zu geben, beweist, dass die israelische Armee zivile Opfer wo immer möglich vermeiden will. (Der Tod des deutschen Arztes Dr. Harry Fischer ist eine traurige Ausnahme.) Die Diplomaten hören den Klagen höflich und meist wortlos zu.

Übrigens gibt es auch auf der anderen Seite der Grenze Obdachlose. Zwar brannte in Gilo nur eine einzige Wohnung aus. Und die Kugeln, die in die Wohnungen eindrangen, trafen glücklicherweise auch hier niemanden. (Ein Grenzsoldat, der in einem Spital seit drei Wochen um sein Leben kämpft, ist auch hier eine traurige Ausnahme.) Die Bewohner der exponierten Häuser leben nun bei Freunden und Bekannten oder in einer Notunterkunft. Ob die fehlenden Opfer auf israelischer Seite auch dem guten Willen der Schützen zuzuschreiben sind? Viel eher ist die günstige Opferbilanz wohl eine Folge des Mangels an schwerem Geschütz.