Berliner Zeitung, 22.11.2000

Gerichtshof für Menschenrechte berät über Öcalan

Völkerrechtler Paech fordert Aufhebung des Todesurteils

Sigrid Averesch

STRASSBURG/BERLIN, 21. November. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat am Dienstag die Anhörung im Fall des in der Türkei zum Tode verurteilten Kurdenführers Abdullah Öcalan begonnen. Die Anwälte des Chefs der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) haben Einspruch gegen das Urteil eingelegt, da Öcalan kein faires Verfahren erhalten habe. Der türkische Geheimdienst hatte Öcalan im Februar 1999 aus Kenia verschleppt. Öcalan war im Juni 1999 verurteilt worden.

Der Völkerrechtler Norman Paech von der Hochschule für Politik in Hamburg räumt der Klage Öcalans in Straßburg hohe Erfolgsaussichten ein. "Das Verfahren gegen Öcalan in der Türkei weist schwerwiegende Mängel auf, die europäischen Grundsätzen widersprechen", sagte er der "Berliner Zeitung". Deshalb müsse das Urteil aufgehoben werden.

Als "absolutes Prozesshindernis" wertet Paech die Ergreifung Öcalans in Kenia. Damals hatten türkische Sicherheitskräfte im Zusammenwirken mit den Geheimdiensten anderer Staaten Öcalan aus Nairobi verschleppt. "Diese Entführung verletzt das Recht des Angeklagten und die Souveränität Kenias", so Paech.

"Türkei wird Spruch annehmen"

Hinzu kämen die Umstände der Haft Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali. "Durch die Isolierung und die restriktiven Besuchszeiten sind die Möglichkeiten zur Prozessvorbereitung behindert worden", kritisiert Paech. Zudem hätten nicht Gerichte über die Haftbedingungen entschieden, sondern der Nationale Sicherheitsrat. "Das ist ein Eingriff in die Unabhängigkeit der Richter und eine Verletzung der EU-Charta", betont der Völkerrechtler.

Sollte der Menschenrechtsgerichtshof das Urteil gegen Öcalan aufheben, rechnet Paech damit, dass die türkische Regierung den Straßburger Richterspruch "über kurz oder lang annehmen" werde. "Die Türkei kann sich im Zuge der Beitrittsverhandlungen zur EU dagegen nicht sträuben", so seine Begründung. Er rechnet allerdings mit harten politischen Auseinandersetzung in der Türkei um die Annahme des Urteils. (mit dpa)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Internet: www.dhcour.coe.fr/