Süddeutsche Zeitung, 23.11.2000

Nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamts

Polizei operiert bei rechter Gewalt mit falschen Zahlen

BKA-Vizechef Falk: Viele Straftaten werden politisch nicht eingeordnet und tauchen daher in der Statistik nicht auf / Von Annette Ramelsberger

Wiesbaden - Die deutsche Polizei arbeitet seit zehn Jahren mit falschen und zu niedrigen Zahlen bei rechtsextremistischen Straftaten, es herrscht Chaos bei der Zählweise und jedes Land zählt nach anderen Kriterien. Diese Probleme hat der Vizepräsident des Bundeskriminalamts (BKA), Bernhard Falk, auf der Tagung des Bundeskriminalamts zum ersten Mal öffentlich angesprochen. Das BKA hat als erste Reaktion auf die völlig verworrene Lage eine Nachuntersuchung aller Tötungsdelikte in den vergangenen zehn Jahren unternommen und dabei die offizielle Zahl von 25 durch Rechtsradikale getötete Menschen bereits auf 36 nach oben korrigiert. Diese Zahl könnte sich noch weiter nach oben bewegen, meinte Falk. Das Risiko durch Rechtsextremisten sei "viel größer als durch die Staatsschutzzahlen ausgewiesen".

Die Erklärungen verschiedener Polizeiexperten beim BKA kommen einem Offenbarungseid der polizeilichen Statistiker gleich. Denn bisher hatte sich die Politik darauf verlassen, dass die Zahl rechter Straftaten in den vergangenen Jahren stabil geblieben ist. Vermutlich haben sich die Zahlen bei einer annähernd korrekten Zählweise aber deutlich erhöht - weit über die bereits bekannten Zahlen hinaus.

Selbst der Fall des Berliner Rechtsextremisten Kai Diesner war bisher nicht in der Statistik enthalten. Diesner hatte 1997 einem Berliner Buchhändler den Arm weggeschossen und auf seiner Flucht in Schleswig-Holstein einen Polizisten ermordet. Erst auf Intervention des BKA war die örtliche Polizeidienststelle bereit gewesen, die Tat als politisch motiviert zu werten. "Wenn so eindeutige Fälle nicht in der Statistik sind, bekommen wir Glaubwürdigkeitsprobleme", sagte BKA-Präsident Ulrich Kersten der Süddeutschen Zeitung.

Betrunkene ohne Gedankengut

Selbst Straftaten von polizeibekannten Rechtsextremisten werden bisher nicht als rechtsradikale Taten erfasst, wenn die Täter bei der Vernehmung nichts zu ihren Motiven sagen. Dann werden diese Taten als normale, nicht politisch motivierte Straftaten gezählt. "So schreiben Verdächtige die polizeiliche Statistik mit und verfälschen sie nach unten", sagte Falk. In manchen Bundesländern werden offensichtlich nicht einmal die Straftaten gezählt, die von betrunkenen Rechtsradikalen verübt werden. "Weil Betrunkene ja kein rechtsextremistisches Gedankengut haben können", mokierte sich der Chef des thüringischen Landeskriminalamts, Harald Kunkel. "Und es gibt Länder, die zählen die Straftaten von Kindern nicht mit", kritisierte er, "und berufen sich dabei auf den Datenschutz. Doch damit bekommen wir kein vernünftiges Lagebild." So werde etwa die Drohung eines offensichtlich kindlichen Anrufers bei Juden nicht in die Statistik aufgenommen - obwohl viele Rechtsextremisten zwischen zwölf und 14 Jahre alt sind. Häufig wird auch erst schwere Körperverletzung, etwa durch Baseballschläger, bei den Straftaten mitgezählt, die einfache Körperverletzung durch Faustschläge wird nicht berücksichtigt. "Wenn wir so zählen würden wie die anderen, blieben von unseren 121 Gewaltdelikten in diesem Jahr gerade 41 übrig", sagte der Thüringer LKA-Chef der Süddeutschen Zeitung. Sein Land steht mit 1142 rechtsextremistischen Straftaten in diesem Jahr an der Spitze aller Bundesländer. Dagegen rangiert Mecklenburg-Vorpommern trotz ähnlicher Bevölkerungszahl am Ende der Statistik - mit nur 79 Straftaten. BKA-Vizechef Falk nannte dies eine "Verzerrung der Realität". In manchen Ländern werden etwa auch Hakenkreuzschmierereien in Schulen gar nicht an das BKA gemeldet.

Das BKA strebt nun eine völlig neue Zählung rechtsextremer Straftaten an. "Wir sind auf Todesfälle gestoßen und haben zur Antwort bekommen: Es gibt keinen Hinweis auf Rechtsextremismus als Motiv", sagte Falk. "Das kam uns unglaubwürdig vor." Erst nachdem der Berliner Tagesspiegel und die Frankfurter Rundschau im September eine Liste von 93 von Rechtsextremisten getöteten Menschen veröffentlichte, wurde die Polizei aktiv und startete ein e Überprüfung. Mittlerweile sind elf weitere Todesfälle rechten Tätern zugeordnet worden. "Wir können uns den Vorwurf nicht leisten, wir banalisierten die Taten von Rechtsextremisten", sagte Falk. In den Ländern ordnen die Polizisten in den normalen Dienststellen die Taten der Statistik zu - und oft, so kritisierte Falk, wollten diese Polizisten nicht, dass ihr Ort oder ihr Land durch eine hohe Zahl rechtsextremer Taten in Verruf gerate. "Es ist eine erhebliche Verzerrung des Datenmaterials zu befürchten ", sagte Falk. "Nach wie vor sind die polizeilichen Zahlen zu rechtsradikalen Straftaten zu gering.