Frankfurter Rundschau, 23.11.2000

Rechtsextreme Gewalt sprengt die Grenzen der Staatsschutz-Statistik

Polizeiliche Daten beschönigen die Wirklichkeit, räumt das Bundeskriminalamt ein / Erfassungssystem unzureichend

Von Andrea Neitzel (Wiesbaden)

Die polizeilichen Daten zu rechtsextrem motivierten Straftaten seien "tendenziell nach unten verfälscht", sagte Bernhard Falk, Vize-Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), bei der Herbsttagung am Mittwoch in Wiesbaden. Das liege nicht vornehmlich an einer partiellen Blindheit der Polizei auf dem rechten Auge, sondern an unzureichenden Erfassungskriterien.

WIESBADEN, 22. November. Zweifel an der Datenbasis der Polizei in Bezug auf rechtsextreme Straftaten seien durchaus angebracht, erklärt Falk, dem man als BKA-Vizepräsident sicher nicht vorwerfen kann, er wolle die Polizeistatistik aus Prinzip in Frage stellen.

Das BKA müsse die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt erneut nach oben korrigieren, sagte Falk. Demnach hat es seit der Wiedervereinigung 36 Tote statt der bisher gemeldeten 25 Toten gegeben; zuvor war die Zahl schon einmal auf 33 korrigiert worden. Anlass der Überprüfung war eine gemeinsame Recherche von Frankfurter Rundschau und Tagesspiegel: Beide Zeitungen hatten im September eine Liste mit Namen von 93 Ausländern und Deutschen veröffentlicht, die von rechten Gewalttätern seit 1990 getötet worden sind.

Stimmt also der Vorwurf, die Polizei verharmlose rechtsextreme Gewalt? Zumindest bei der Erfassung dieser Vorfälle spielen laut Falk subjektive Einschätzungen von Polizisten mit, wie etwa die Erfahrung, dass Täter nicht immer klare oder glaubhafte Motive angeben, oder auch die Überzeugung, dass Polizei und Justiz Straftaten bekämpfen, nicht Gesinnung - eine Auffassung, die auch Generalbundesanwalt Kay Nehm bei der Tagung vertrat.

Hinzu komme, so Falk, dass einige Polizisten ihre Behörde nicht in Verruf bringen wollten. Manchmal herrscht nach den Worten des BKA-Vize eine wenig ausgeprägte Sensibilität vor, manchmal einfach Nachlässigkeit. All das habe zur Folge, dass selbst dann, wenn Tatverdächtige offen fremdenfeindliche oder antisemitische Motive zugeben, die Einschätzung "rechtsextrem" im Polizeibericht nicht auftauche.

Zudem wird laut Falk das Meldesystem der Realität nicht gerecht. Der wirren Gemengelage von Motiven für rechte Gewalt stehe ein System gegenüber, das klare Zuordnungen verlange: Jede Straftat darf nur in einer Kategorie erfasst werden, also entweder rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich oder radikal oder antisemitisch. Da eine so eindeutige Zuordnung oft knifflig bis unmöglich sei und sich oft im Bereich juristischer Feinheiten bewege (so muss Extremismus eigentlich immer das Merkmal der Systemüberwindung aufweisen), würden der Einfachheit halber viele Fälle unter "Sonstige" verbucht.

Die Forderung, dass die Dienststellen vor Ort nur einen "neutralen" Sachbericht verfassen, die Einordnung, ob die Tat als rechtsextrem einzuschätzen ist, aber dem Bund obliegen soll, scheitert offenbar am Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern. Jedenfalls stößt das BKA, das bei fehlender Plausibilität oder stark abweichender Medienberichterstattung schon mal bei den Landeskriminalämtern nachfrage, "regelmäßig auf Ablehnung", wie der BKA-Vizepräsident berichtet.

Falks Resümee: "Die wirkliche Zahl rechtsextremer Gewalttaten ist deutlich höher als durch die Staatsschutz-Statistik ausgewiesen." Nicht einmal eingerechnet sei die erhebliche Dunkelziffer von Gewalttaten, die gar nicht erst angezeigt werden. Falk sieht daher dringenden Handlungsbedarf, diesen Missstand zu beheben - andernfalls treffe die Polizei zu Recht der Vorwurf, sie beteilige sich an Banalisierung von Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus.