Frankfurter Rundschau, 22.11.2000

Vom Kopftuchtragen beim Ausländeramt und in beheizten Schulzimmern

Das Bundesverfassungsgericht verhandelte Beschwerden von Iranerinnen, denen die Kopfbedeckung aufgenötigt wurde

Von Ursula Knapp (Karlsruhe)

Deutsche Behörden verwickeln sich bei der Bewertung des von Musliminnen getragenen Kopftuches in Widersprüche. Das wurde am Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich. Einerseits dürfen Lehrerinnen unter Hinweis auf religiöse Neutralität nicht mit Kopftuch unterrichten. Andererseits bestreiten Behörden einen Eingriff in die Religionsfreiheit, wenn Frauen bei Abschiebungen gezwungen werden, sich mit Kopftuch ablichten zu lassen. Anlass zur mündlichen Verhandlung vor dem Zweiten Senat war die Verfassungsbeschwerde der in Nürnberg lebenden Iranerin Nosrat Haj Soltani und ihrer Tochter. Nachdem ihre Asylanträge abgelehnt worden waren, sollten sie nach Iran abgeschoben werden und die nötigen Ersatz-Reisedokumente beschaffen. Ihre Weigerung, sich mit Kopftuch fotografieren zu lassen - was Iran verlangt - führte Anfang des Jahres zu einer gerichtlich bestätigten Zwangsvorführung bei einem Fotografen und dem gewaltsamen Anlegen des Kopftuchs durch die Polizei. Die Frauen erhoben dagegen Verfassungsbeschwerde. Sie sehen ihr Persönlichkeitsrecht und ihre religiöse Bekenntnisfreiheit verletzt.

Die bayerische Staatsregierung, vertreten durch Generallandesanwalt Enno Boettcher, bestritt Verfassungsverstöße. Nach dem Ausländergesetz müssten Ausreisepflichtige an der Beschaffung der erforderlichen Papiere mitwirken. Da Iran von weiblichen Staatsangehörigen Passfotos mit Kopftuch verlange, müssten diese an der Erstellung der Fotos mitwirken.

Ein Eingriff in die in Deutschland geltende Religionsfreiheit verneinte Boettcher. Das Tragen eines Kopftuchs stelle anders als das Kruzifix kein religiöses Bekenntnis dar. Deshalb sei auch nicht die Bekenntnisfreiheit verletzt, wenn bei einer Iranerin der Kopftuchzwang durchgesetzt werde. Boettcher betonte, dass in Iran für alle Frauen in der Öffentlichkeit Kopftuchzwang gelte und folgerte, dass es sich um ein allgemeines politisches Gesetz über Kleidervorschriften handele.

Das stieß auf der Richterbank auf intensive Nachfragen. Wieso es denn ein Problem sei, wenn Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten, fragte Bundesverfassungsrichterin Lerke Osterloh und spielte auf den aktuellen Rechtsstreit in Baden-Württemberg an. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat einer Muslimin die Einstellung als Lehrerin versagt, weil diese auf dem Tragen des Kopftuchs besteht und damit die gebotene religiöse Neutralität des Staates verletze. Wenn eine Lehrerin "in geheizten Klassenzimmern" ein Kopftuch trage, demonstriere sie eine innere Haltung, ergänzte Boettcher. "Da sehe ich einen kleinen Bruch in der Argumentation", kommentierte die Vorsitzende des Zweiten Senats, Jutta Limbach. Berichterstatter Berthold Sommer nannte die unterschiedliche Bewertung eine "Ambivalenz".

Ob das Kopftuch als religiöse Demonstration beurteilt wird, ist deshalb bedeutsam, weil Eingriffe in die Religionsfreiheit durch deutsche Behörden nur erlaubt sind, wenn sie auf Grund anderer Rechtsgüter notwendig und verhältnismäßig sind. Für die Münchner Rechtsanwältin der Iranerinnen, Gisela Seidler, ist eindeutig, dass deutsche Behörden nur aus ordnungspolitischen Gründen bestimmte Bilder verlangen können. Lasse sich eine Muslimin - etwa für den Führerschein - voll verschleiert fotografieren und sei dann nicht mehr identifizierbar, müsse das der Staat nicht dulden. Bayern dürfe aber nicht das religiöse Gesetz des Iran vollziehen. Das Urteil wird in drei Monaten erwartet. Laut Seidler werden die Iranerinnen dann in die USA weiterreisen, die die Aufnahme der Frauen signalisiert haben.