Frankfurter Rundschau, 22.11.2000

Brüssel fordert aktive Einwanderungspolitik

EU-Staaten sollen sich zu Multikulturalität bekennen

Von Michael Bergius

Die EU-Staaten sollten nach Auffassung der Europäischen Kommission in der Einwanderungspolitik neue Wege gehen: Die Integration von Bürgern aus Drittländern in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt müsse "aktiver" betrieben werden. Auch fordert Brüssel von den politisch Verantwortlichen ein klares Bekenntnis zu multikulturellen Gesellschaften.

BRÜSSEL, 21. November. Das seit den 70er Jahren von den meisten EU-Staaten gewählte Konzept der "Null-Immigration" habe ausgedient, heißt es in einer der FR vorliegenden Studie, die die Kommission an diesem Mittwoch verabschieden will. Spätestens die Green-Card-Debatte in Deutschland habe gezeigt, dass es unionsweit Defizite auf den Arbeitsmärkten gebe, die durch die absehbare Überalterung der Bevölkerung noch wachsen würden. Handlungsbedarf ergebe sich auch durch die zunehmende illegale Einwanderung.

Nach Ansicht der Kommission sind die EU-Mitglieder den Komplex Zuwanderung bisher zu defensiv angegangen - verengt auf Themen wie Asyl(-Missbrauch), drohende Jobverluste für die eigene Bevölkerung oder Furcht vor Überfremdung. Die verbreitete Auffassung, dass Zuwanderung zu Arbeitslosigkeit in den Aufnahmestaaten beitrage und deren Sozialsysteme belaste, werde durch internationale Studien aber klar widerlegt. Dagegen werde der Umstand, dass eine "geregelte Einwanderung" sich "vorteilhaft" auf nationale Arbeitsmärkte auswirke, "nicht gebührend berücksichtigt", kritisiert die EU-Behörde.

Die Kommission, die bereits durch ihre jüngsten Vorschläge zu gemeinsamen Standards für Asylverfahren und zur Flüchtlingspolitik Kritik ausgelöst hat, spricht sich nicht für eine bedingungslose Öffnung von Grenzen aus. Vorrang solle eine Politik haben, die "Druckfaktoren" in Drittstaaten vermindere und Ausreisewillige ermuntere, in ihrer Heimat zu bleiben. Auch müssten bei der Immigration die "historischen und kulturellen Beziehungen" zwischen den Herkunfts- und Aufnahmeländern bedacht werden.

Auf der anderen Seite müssten die EU-Staaten jedoch mehr für die Integration von Ausländern tun, die sich bewusst für einen Aufenthalt in der Union entschieden hätten: beim Abbau von Visa-Beschränkungen, beim Zugang zu Schulen und Bildungseinrichtungen und bei Sozialleistungen. Feste Einwanderungsquoten hält die Kommission für "nicht praktikabel", wohl aber ein System, nach dem die Mitgliedstaaten regelmäßig "Zieldaten" im Hinblick auf die jeweiligen Bedürfnisse ihrer Arbeitsmärkte veröffentlichen.

Der Vorstoß Brüssels erhält besondere Brisanz durch weitere politischen Aussagen: Der der FR vorliegende Entwurf ruft die politisch Verantwortlichen zu einem "klaren Bekenntnis zu multikulturellen Gesellschaften und zu einer Verurteilung von Fremdenfeindlichkeit" auf. Aktive Einwanderungspolitik bedeute, "eine Sprache zu vermeiden, die zu Rassismus anstacheln oder Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen fördern" könne. Wie zu erfahren war, versuchten CDU/CSU-nahe Kommissionsbeamte bis zuletzt, solche Passagen zu streichen.