Badische Zeitung, 22. November 2000

Zum Öcalan-Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof kamen 15000 Kurden und 3000 Türken / Friedlicher Verlauf

18'000 Demonstranten in Straßburg

Von unserem Korrespondenten Michael Neubauer

STRASSBURG. Während sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit der Beschwerde des kurdischen Separatistenführers Abdullah Öcalan gegen die Türkei befasste, zogen gestern etwa 15'000 Anhänger zumeist aus Deutschland und 3000 Gegner Öcalans durch die Stadt.

Erst ertönt ein Klingelzeichen, dann ein Ruf: "La Cour!" Eine Tür öffnet sich und sieben Richter in blausamtenen Roben kommen durch eine Holztür in den hellen Saal des EU-Menschenrechtsgerichtshofes. Es dauert eine Weile, bis sie ihre Plätze erreicht haben. Zwischen ihnen und den Anwälten Öcalans und der Türkei liegt ein großer runder blauer Europa-Teppich mit gelben Sternen.

Eine Richterin erklärt die Anhörung im Verfahren des Klägers Öcalan gegen die Türkei für eröffnet. Unter den Zuhörern in dunklen Anzügen leuchtet das pink-grüne Kleid von Fatma Kara, die aus dem Osten der Türkei für diesen Tag angereist ist. "Ich hoffe auf ein menschliches Recht", sagt die Frau, "wenn es das in Europa gibt, muss es das bei uns auch geben." Die Kurdin trägt Fotos von Söhnen ihrer Großfamilie vor sich her. "Sie sind gestorben beim Kampf des türkischen Militärs gegen uns Kurden."

An diesem Tag liegt Straßburg zwischen Türken und Kurden. Über Nacht sind tausende Demonstranten friedlich in die Stadt gefahren, um an zwei großen Demonstrationen teilzunehmen. Die eine verläuft im Norden, die andere im Süden der Stadt, sie sollen sich nicht kreuzen. Die Präfektur zählt über 20'000 Teilnehmer bei der Kurdendemo, rund 3000 bei der Gegendemonstration der Türken.

Am Bahnhof treffen sich die Anhänger des PKK-Chefs Öcalan. Busfahrer Wolfgang Leihs fährt für ein Unternehmen in Müllheim, sein Bus kommt nicht mehr weiter. Dutzende von Bussen mit Kennzeichen aus allen Ecken und Enden Deutschlands, Hollands und Frankreichs bringen die Demonstranten nach Straßburg. Er hat 50 Kurden aus Breisach, Eichstetten und Freiburg hierhergebracht, "mit kurdischer Musik und Reden im Bus haben die sich schon mal warm gemacht". Leihs freut sich über die elsässischen Polizisten, die ihm auf Deutsch erklären, wie er aus dem Verkehrskuddelmuddel wieder rauskommt. Eine Motorradeskorte begleitet ihn über die Stadtautobahn auf einen Großparkplatz.

Viele der Demonstranten haben extra Urlaub genommen. Abdullah ist 34 Jahre alt und aus der Schweiz angereist. Er steht inmitten eines endlos langen Demonstrationszuges und trägt eine gelbe Fahne mit Öcalans Bild darauf. "Freiheit für Öcalan", rufen die Menschen, "Wir sind immer bei dir."

Abdullah hofft, dass der Richterspruch in Straßburg gegen das Todesurteil ausfallen wird, es wäre wohl seine letzte Chance. Für ihn sei Öcalan eine Art Sohn, sagt er, der aus ihm einen stolzen Kurden gemacht habe. "Wenn das Todesurteil vollstreckt wird, dann wird es schlimm werden in Europa und in der Türkei. Wir werden wohl zu Terroristen werden, um unseren Sohn zu rächen."

Auf der Avenue des Vosges haben die Fahnen eine andere Farbe, Rot mit einem Halbmond darauf. "PKK, Mörder!" schallt es aus den Kehlen der türkischen Demonstranten. Der Zug führt am türkischen Generalkonsulat vorbei, auf dem Balkon und an den Fenstern stehen die Angestellten und klatschen für ihre Landsleute. "Das Urteil in der Türkei ist heilig", steht auf einem Transparent. Am Abend lösen sich die Demonstrationen nach den Abschlussveranstaltungen auf. Ein Sprecher der Präfektur ist froh, dass die "gespannte Lage in der Stadt" nicht gekippt ist - aber der Gerichtshof hat noch kein Urteil gesprochen.