Süddeutsche Zeitung 21.11.2000

Letzter Ausweg Straßburg

Mit der Klage vor dem Menschenrechtstribunal will PKK-Chef Öcalan der Todesstrafe entgehen / Von Stefan Ulrich

Eineinhalb Jahrzehnte hat er auf Gewalt gesetzt, nun pocht er auf das Recht. Abdullah Öcalan flüchtet sich in die Arme der Richter, um dem Henker zu entkommen. Damit rückt der Kurdenführer, um den es sehr still geworden war, plötzlich wieder ins Zentrum des Interesses. Siegt er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, so hat er den Kopf schon fast aus der Schlinge gezogen. Denn die Urteile aus Straßburg sind verbindlich. Und Ankara hat bereits angedeutet, es werde sich einem Richterspruch beugen.

Nicht nur in der Türkei, auch in Deutschland wird der Ausgang dieses bedeutendsten Prozesses in der Geschichte des Europarats-Tribunals mit Spannung erwartet. Unter den Hunderttausenden hier lebenden Kurden sind viele Mitglieder von Öcalans Kurdischer Arbeiterpartei (PKK). Sie könnten Amok laufen, falls ihr 51 Jahre alter Vorkämpfer doch noch hingerichtet wird. Seinen Anhängern gilt "Apo" immer noch als Volksheld und Übervater. Für die Türken ist er dagegen ein Terrorist und "Babymörder".

Öcalan darf seinen Fall denn auch nicht persönlich in Straßburg vorbringen. Er bleibt auf der Insel Imrali im Marmara-Meer inhaftiert. Über sein dortiges Leben sind die Berichte widersprüchlich. Die kurdische Seite beklagte unlängst, er werde schlecht behandelt und ringe mit dem Tode. Türkische Zeitungen schilderten die Gefängnisinsel dagegen geradezu als Ferienparadies. Fest steht, dass Öcalan der einzige Häftling ist und nur über seine Anwälte Kontakt zur Außenwelt halten kann. Die Verteidiger werden nun auch für ihn in Straßburg auftreten. Sie werfen der Türkei etliche Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor. Die Anwälte stützen sich dabei auf drei Punkte: die Entführung Öcalans durch türkische Agenten, das Strafverfahren in der Türkei und schließlich die Todesstrafe selbst. Die türkischen Richter konnten freilich kaum zu einem milderen Urteil kommen. Schließlich hatte der Angeklagte die Verantwortung für die Taten der PKK übernommen. Seinem Kampf um Kurdistan waren mindestens 35 000 Menschen zum Opfer gefallen. Und Öcalan hatte einst sogar getönt: "Auch wenn 100 000 Menschen getötet werden - es ist mir egal. Viel Blut wird fließen."

Trotz eines brutal geführten Krieges im Osten der Türkei hatte Ankara die nicht minder brutale, stalinistisch geführte Kurden-Guerilla Öcalans lange nicht besiegen können. "Apos" Ende bahnte sich erst im November 1998 an. Damals verwies ihn sein Schutzpatron Syrien des Landes. Es folgte eine Odyssee durch Europa. Öcalan flog auf der verzweifelten Suche nach Asyl kreuz und quer durch den Kontinent und stürzte mehrere Regierungen in arge Verlegenheit. Einige Staaten alarmierten ihre Luftraumüberwachung, um den prekären Gast schon im Anflug abzuwehren. Berlin leistete sich eine peinliche Justizposse. Obwohl der PKK-Chef in Deutschland per Haftbefehl gesucht wurde, wollte ihn die Regierung nicht haben. Zu groß war ihre Angst vor den Kurden im eigenen Land.

Im Februar 1999 versteckte sich der von Ankara Gejagte schließlich in der griechischen Botschaft in Kenia. Von dort aus wurde er in die Türkei verschleppt. In Deutschland kam es daraufhin zu gewalttätigen Kurden-Protesten und Konsulats-Besetzungen. Die Hintergründe der Entführung blieben mysteriös. Die PKK vermutet ein Komplott griechischer, türkischer und amerikanischer Geheimdienste.

Völkerrechtler streiten indes über die Auswirkungen des Kidnappings. Zum Teil wird argumentiert, die illegale Entführung mache auch den folgenden Strafprozess in der Türkei rechtswidrig. Dort wurde der PKK-Führer im Juni 1999 wegen Hochverrats zum Tod durch den Strang verurteilt. Seine Anwälte beklagten, sie seien in der Verteidigung behindert worden. Ein Beobachter des Europarats kam dagegen zu dem Schluss: "Wir haben ein faires Verfahren gesehen." Nun ging es darum, ob das Urteil auch vollstreckt würde.

Auf die Klage Öcalans hin appellierten die Europarichter Ende 1999 an Ankara, die Hinrichtung bis zu einer Entscheidung auszusetzen. Daraufhin rang sich die türkische Regierung im Januar zu einem historischen Entgegenkommen durch: Sie gewährte Öcalan die Galgenfrist. In Straßburg wird es nun auch darum gehen, ob die Todesstrafe an sich noch zulässig ist. Ankara hat sich bisher geweigert, einem Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention beizutreten, in dem es heißt: "Die Todesstrafe ist abgeschafft." Demnach dürfte die Türkei Straftäter hinrichten.

Für die Richter, deren Urteil in einigen Monaten erwartet wird, ist es nicht leicht, rechtlich zum gewünschten Ergebnis zu kommen. EU, Europarat und viele Politiker in der Türkei wünschen eine Verschonung Öcalans. Doch auch wenn Straßburg Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention nachweisen kann, darf es das türkische Todesurteil nicht einfach aufheben. Der Gerichtshof kann aber verlangen, dass Ankara "Abhilfe" schafft. Der Rebellenführer würde dann wohl zu lebenslanger Haft begnadigt. Die Menschenrechte werden Abdullah Öcalan also kaum die Freiheit bringen. Sie könnten aber seinen Kopf retten und der Türkei den Weg nach Europa bahnen.