junge Welt, 21.11.2000

Verschleppt und gefoltert

Türkei: Verfahren gegen Cevat Soysal erinnert an Fall Öcalan.

PKK-Chef klagt in Strasbourg

Vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara wird derzeit der Fall Cevat Soysal verhandelt. Dieser wird als »Nr. 2 der PKK« betrachtet und ist wegen leitender Funktion in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Am heutigen Dienstag wird vermutlich der Staatsanwalt sein Schlußplädoyer halten, und es ist damit zu rechnen, daß er die Todesstrafe für Soysal fordern wird.

Der nun inhaftierte Kurde lebte in der BRD als anerkannter Asylberechtigter und wurde vom türkischen Geheimdienst MIT im Juli letzten Jahres aus der ehemaligen Sowjetrepublik Moldawien entführt. Neun Tage galt Soysal seinerzeit als verschollen, bis er schließlich in Ankara als Gefangener auftauchte. Der Fall erinnerte an die Verschleppung Abdullah Öcalans im Februar 1999, und auch die Bilder des gefesselten, schwer verletzten und offensichtlich unter Drogen stehenden Gefangenen, die von den türkischen Medien in alle Welt ausgestrahlt wurden, glichen denen vom Kidnapping des PKK-Chefs.

Die neun Tage, die Soysal vermißt wurde, verbrachte er nach eigenem Bekunden beim MIT, wo er bestialisch gefoltert wurde. Seinem damaligen Anwalt Kenan Sidar gegenüber gab Soysal an, er sei geschlagen worden, er habe an verschiedenen Körperteilen Elektroschocks bekommen und seine Hoden seien gequetscht worden. Außerdem sei er am Schlafen gehindert und ihm sei ein Psycho-Serum gespritzt worden. Zusätzlich seien verschiedene Methoden von Hypnose und Therapie angewandt worden, um ihn gefügig zu machen und die gewünschten Geständnisse aus ihm herauszupressen. Ziel sei gewesen, so Soysal, ihn soweit zu manipulieren, daß er zu Aussagen und Stellungnahmen zu den legalen Oppositionsparteien, speziell der prokurdischen HADEP, den Menschenrechtsorganisationen, den Gewerkschaften, verschiedenen kulturellen Vereinigungen sowie Einzelpersonen bereit sei.

Nun habe der türkische Staat auch die »Nummer zwei der PKK« in seine Hände gebracht, ließ Premierminister Bülent Ecevit nach der Verschleppung Cevat Soysals in alle Welt verkünden. Besonders prekär: An dem Tag, als der Gefangene Soysal der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde, traf Außenminister Joseph Fischer in Ankara zu einem Staatsbesuch ein. Die Bekanntgabe der Festnahme des in der BRD asylberechtigten Kurden just zu diesem Zeitpunkt war eine Provokation der Bundesregierung und eine Brüskierung des Außenministers. Laut Soysal jedoch nicht nur ein Affront gegen die BRD, sondern gegen ganz Europa. Soysal sollte zur Aussage gebracht werden, die Operationen der PKK in den europäischen Staaten fänden mit Wissen, Zustimmung und Unterstützung der europäischen Regierungen und ihrer Geheimdienste statt. »In dieser Hinsicht sollte die Öffentlichkeit gefüttert werden wie eine Bombe, die in dem Moment explodiert, in dem der deutsche Außenminister Fischer in die Türkei kommen sollte«, so Soysal wörtlich. Daß Ecevit der große Coup trotzdem nicht gelang, ist lediglich der Standhaftigkeit des gefolterten Soysal zu verdanken, der ein Leben lang an den Folgen der Tortur wird leiden müssen.

Die Bremer Anwältin Renate Schultz legte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg ein. Dem Antrag fügte sie die eidesstattliche Versicherung Kenan Sidars bei. Der Rechtsanwalt mußte wegen seiner Tätigkeit als Verteidiger unter anderem von Soysal und Öcalan aus der Türkei fliehen und lebt inzwischen in Stuttgart. Sidar bot sich Strasbourg schriftlich als Zeuge an. Außerdem erhielt der dortige Gerichtshof ein Gutachten des Schweizer Völker- und Strafrechtlers Professors Riklin, das eigentlich für den Fall Abdullah Öcalan angefertigt wurde. Darin kam der Wissenschaftler zu dem Schluß, die damalige Verschleppung sei völkerrechtswidrig gewesen und Öcalan dürfe nicht nur nicht verurteilt werden, sondern müsse mit sofortiger Wirkung aus der Haft entlassen und es müsse ihm die Ausreise gestattet werden. »In dem Gutachten muß nur der Name Öcalan durch Soysal ersetzt werden«, erläuterte Renate Schultz gegenüber junge Welt. »Die Fakten sind vergleichbar.«

Schultz rechnet damit, daß der Europäische Gerichtshof auf einer seiner nächsten Sitzungen über die Zulässigkeit ihrer Klage entscheiden wird. Das Urteil gegen Soysal in der Türkei wird voraussichtlich noch in diesem Jahr gefällt. Renate Schultz geht von der Verhängung der Todesstrafe aus, hofft allderdings, daß die Vollstreckung wie im Fall Öcalan bis zur endgültigen Entscheidung Strasbourgs ausgesetzt wird.

In Strasbourg wird am heutigen Dienstag auch über den Fall Abdullah Öcalan verhandelt. Die Anwälte des 51 Jahre alten PKK-Chefs hatten im Februar 1999, kurz nach der Verschleppung Öcalans aus Kenia in die Türkei, Beschwerde beim Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Sie werfen der Regierung in Ankara eine Reihe von Grundrechtsverletzungen vor. Mit einem Grundsatzurteil in Strasbourg ist allerdings erst in einigen Monaten zu rechnen.

Birgit Gärtner