taz 20.11.2000

Türkei: Gefangene im Hungerstreik

800 Gefangene in der Türkei im Hungerstreik gegen Auseinanderlegung. Sie wollen lieber in überfüllten Massenzellen bleiben

ISTANBUL taz Mehr als 800 Gefangene befinden sich derzeit in verschiedenen türk ischen Gefängnissen in einem Hungerstreik. Da einige Gefangene bereits seit 30 Tagen die Nahrungsaufnahme verweigern, drohen ihnen lebensgefährliche Gesundheitsschäden. Nach Auskunft von Angehörigen haben einige Gefangene bereits einen dramatischen Gewichtsverlust erlitten, anderen fallen infolge des Hungerstreiks die Haare aus.

Begonnen hat der Hungerstreik im Südwesten der Türk ei in Aydin, wo zuerst 37 Gefangene die Nahrungsaufnahme verweigerten. Diese 37 fasten nun bereits 30 Tage und haben damit ein Stadium erreicht, wo irreversible Schäden drohen. Trotz dieser bedrohlichen Situation verweigern die Gefangenen eine ärztliche Betreuung. Nach dem Beginn in Aydin schlossen sich Gefangene aus 17 weiteren Knästen dem Hungerstreik an. Der Hungerstreik richtet sich gegen eine mögliche Verlegung der Gefangenen in neu gebaute Gefängnisse, die unter der Bezeichnung F-Typ-Knäste bekannt geworden sind. Diese neuen Gefängnisse unterscheiden sich von den bislang gebräuchlichen Anstalten dadurch, dass die Gefangenen nicht mehr in Zellen bis zu 100 Personen, sondern in Einzel-Zwei- oder höchstens Dreimann zellen untergebracht werden.

Was für den Justizminister ein Schritt hin zu einer Angleichung der Knäste an einen europäischen Standard bezeichnet ist, bedeutet in den Augen vieler Gefangener drohende Isolationshaft. Bislang ist es so, dass Gefangene, die die U-Haft und ihren Prozess hinter sich haben, im regulären Vollzug weitgehend sich selbst überlassen sind und das Subsystem innerhalb des Gefängnisses häufig auch selbst organisieren. In den neuen Knästen glauben sie sich der Willkür des Wachpersonals ausgeliefert, die dann, ohne den Schutz durch die anderen Gefangenen, einzelne Häftlinge foltern oder misshandeln könnten.

Unterstützt werden die Häftlinge von einer Gruppe organisierter Angehöriger und dem Menschenrechtsverein IHD. Eine der Hauptursachen für die derzeitigen unhaltbaren Zustände in den meisten türkischen Knästen ist die Überbelegung der Haftanstalten. Vor rund einem Jahr scheiterte der Versuch, durch eine Amnestie Platz zu schaffen, an der Frage, welche Häftlingsgruppen alle von einer Amnestie profitieren sollten. Zur Zeit wird innerhalb der Regierungskoalition erneut über eine Amnestie diskutiert - denkbar, dass allen Gefangenen pauschal zehn Jahre erlassen werden.

JÜRGEN GOTTSCHLICH