Berliner Zeitung, 20. November 2000

"Die EU-Eingreiftruppe wird die Nato verändern"

Nato-Generalsekretär George Robertson über die Verteidigungspolitik der Europäischen Union und die Bundeswehrreform

BRÜSSEL, 19. November. Der Brite George Robertson ist seit 1999 Generalsekretär der Nato. Vor seinem Berlin-Besuch am Dienstag lobt er die EU-Pläne, bis zu 60 000 Soldaten für künftige Militäroperationen bereitzustellen, drängt jedoch zugleich die Europäer, noch mehr für die Verteidigung zu tun.

An diesem Montag wollen die Außen- und Verteidigungsminister der EU in Brüssel festlegen, welche Beiträge jedes Land zu der geplanten EU-Truppe leisten soll. Was halten Sie von dem Projekt?

Die europäische Verteidigungspolitik hat in den letzten zwölf Monaten mehr Fortschritte gemacht als in den zwölf Jahren davor, und das Projekt der gemeinsamen EU-Truppe ist eines der wichtigsten seit der Gründung der Nato. Im Übrigen wird es auch die Allianz verändern: Wenn die Europäer die Fähigkeit gewinnen, Krisen in ihrem eigenen Hinterhof zu lösen, wird das in der Nato zu einem neuen transatlantischen Gleichgewicht führen.

Ist denn sichergestellt, dass die Zusammenarbeit zwischen Nato und EU funktioniert?

Wir haben noch ein bisschen Arbeit vor uns, aber ich bin sicher, dass wir rechtzeitig bis zum EU-Gipfel Anfang Dezember in Nizza fertig werden. Es gibt drei Bereiche, wo noch Einzelheiten geklärt werden müssen: Wir müssen sicherstellen, dass die EU für ihre Einsätze bestimmte Nato-Fähigkeiten nutzen kann wie die Einsatzplanung oder die Kommandostruktur. Außerdem muss klar sein, wie die sechs europäischen Länder, die zwar der Nato, aber nicht der EU angehören, in die EU-Prozesse einbezogen werden. Und schließlich müssen wir die Gespräche über die künftige Zusammenarbeit zwischen EU und Nato abschließen.

Wieweit sollte denn die EU die sechs anderen europäischen Nato-Länder beteiligen?

Die Türkei und die anderen Länder wollen sicher sein, dass sie einbezogen werden, wenn ihre Interessen oder ihre Region von EU-Einsätzen berührt werden. Die EU ist bereit, sie zu konsultieren, bevor sie Entscheidungen über einen Einsatz trifft. Das ist auch im Interesse der EU, denn diese Länder verfügen über ein politisches Gewicht und über militärische Fähigkeiten, die sie für größere Einsätze unverzichtbar machen.

Zurück zur EU-Truppe: Glauben Sie, dass die Europäer bereit sein werden, das nötige Geld zur Umsetzung ihrer Pläne aufzubringen?

Ich bin optimistisch. In den meisten europäischen Ländern steigen inzwischen die Investitionen für die Verteidigung.

Deutschland gibt nach wie vor wenig für die Verteidigung aus.

Ich habe Sympathie für die deutsche Situation. Deutschland hat in jüngster Zeit unter anderem sehr viel Geld für die Auflösung der DDR-Armee und für den Abzug der russischen Soldaten ausgegeben.

Aber das ist nun schon ein paar Jahre her.

Ja. Aber es ging um viel Geld. Im Übrigen bin ich sehr angetan von der Bundeswehrreform, die Minister Scharping jetzt durchführt. Sie geht in genau die richtige Richtung: Die Bundeswehr wird mobiler, flexibler und einsatzfähiger. Die Gesamtzahlen sinken, dafür wird die Armee professioneller.

Geht das denn, ohne deutlich mehr Geld auszugeben?

Das wird sich erst mit der Zeit herausstellen. Ich selbst glaube, dass kein Nato-Land in der Lage sein wird, die Fähigkeiten aufzubauen, die wir in Zukunft brauchen, ohne seine Investitionen zu erhöhen. Aber die Umstrukturierung der Streitkräfte ist in jedem Fall eine Vorbedingung. Es nützt weder der EU noch der Nato, wenn man mehr Geld für die falschen Streitkräfte ausgibt.

Sie sprachen von einem neuen transatlantischen Gleichgewicht in der Nato. Wie wird in zehn Jahren die Arbeitsteilung zwischen USA und Europa aussehen?

Ich will lieber sagen, wie sie nicht aussehen soll. Auf keinen Fall darf es so sein, dass die Amerikaner hoch entwickelte Entfernungswaffen einsetzen und die Europäer das Fußvolk stellen. Das bedeutet, dass sich die Europäer in die Lage versetzen müssen, ebenfalls Hightech-Ausrüstung einzusetzen. An dieser Stelle kommen wir auf die alte Frage zurück: Ob nämlich die europäischen Länder bereit sind, die notwendigen Investitionen für den Schutz der künftigen Generationen zu leisten. Auch die Berater von George W. Bush haben von einer neuen Arbeitsteilung gesprochen: Sie meinen, die US-Soldaten sollten in Zukunft die Kriege führen und die Europäer die oft Jahre dauernden Friedenseinsätze bestreiten.

Bushs Berater sagen, dass man die amerikanischen Kampftruppen nicht dazu verwenden sollte, Kinder zur Schule zu geleiten oder vergleichbare Aufgaben zu übernehmen. Der Meinung bin ich übrigens auch. Bei den Friedenseinsätzen in Bosnien oder im Kosovo müssen unsere Kampftruppen viel zu viele Aufgaben erledigen, die mit Militär eigentlich nichts zu tun haben. Deswegen ist es gut, dass die EU auch zivile Einsatzkräfte schaffen will.

Wäre es denn für die USA möglich, sich aus den Nato-Friedenstruppen auf dem Balkan zurückzuziehen?

Ich glaube nicht. Wenn wir einen Nato-Einsatz haben, ist es wichtig, dass die Soldaten aus allen 19 Nato-Ländern da sind, um die Risiken und die Lasten zu teilen.

Was werden denn künftig Nato-Einsätze, und was werden EU-Einsätze?

Dafür wird es keine starren Regeln geben. Wer einen Einsatz macht, wird davon abhängen, wie groß er ist, wer sich engagieren will und welche Fähigkeiten gebraucht werden. Die Zusammenarbeit zwischen EU und Nato wird in jedem Fall so eng sein, dass die Entscheidung dann auf ganz natürliche Weise entstehen wird.

Wird die Nato für ihre Einsätze Rückgriff auf die entstehenden europäischen Einsatztruppen haben?

Ja. Es sind dieselben Soldaten, die für EU-Einsätze oder Nato-Einsätze in Frage kommen. Aus Sicht des Nato-Generalsekretärs ist die europäische Verteidigungspolitik eine ausgesprochen gute Sache, weil sie bedeutet, dass die Europäer mehr militärische Fähigkeiten aufbauen. Und all diese Fähigkeiten stehen dann auch der Nato zur Verfügung.

Das Gespräch führte Bettina Vestring.