Neue Luzerner Zeitung (CH), 18.11.2000

Türkei: Armeniermassaker und Kurdenpolitik

Ankaras empfindlichster Punkt

Empört reagiert die offizielle Türkei auf einen Entscheid des Europaparlaments. Und das Thema kurdisches Fernsehen spaltet die Regierung.

«Europa hat uns verärgert», wettert das türkische Massenblatt «Sabah». Und Ministerpräsident Bülent Ecevit spricht dem Europaparlament jedes Recht ab, sich in die internen Angelegenheiten der Türkei einzumischen. Der Grund: Am Mittwochabend verabschiedete das Europaparlament eine Resolution, die die Türkei auffordert, sich zum Genozid an mehr als 1,5 Millionen Armeniern während des Ersten Weltkriegs zu bekennen. Damit traf es Ankara an einem seiner empfindlichsten Punkte.

Ärgernisse im Multipack

Vor allem die nationalistischen Regierungskreise sehen in der Entscheidung des Parlaments einen erneuten Versuch der EU, der Türkei zusätzliche Bedingungen vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu diktieren. Schon die Forderung nach rascher Lösung des Zypernproblems in dem in der Vorwoche von der Kommission verabschiedeten Partnerschaftsdokument hatte das offizielle Ankara beträchtlich verärgert. Sowohl die Armenienfrage als auch Zypern seien nicht in den Kopenhagener Beitrittskriterien enthalten, an die allein Ankara sich halten wolle, liess Ecevit böse erkennen. Erst im Oktober konnte US-Präsident Clinton nur durch direkte Intervention eine schwere Krise im bilateralen Verhältnis abwenden, als es ihm gelang, den US-Kongress von einer ähnlichen Resolution abzuhalten. Der französische Senat hingegen verabschiedete dieser Tage die Forderung an die Türkei, sich zum Genozid zu bekennen. Für den Fall, dass sich das Parlament dieser Haltung anschliesst, haben die Türken wirtschaftliche Boykottmassnahmen vorbereitet.

Blutige Geschichte

Die armenische Lobby in den USA wie in Europa erhofft sich durch derartige Beschlüsse die Besserstellung der armenischen Minderheit in der Türkei. Zudem geht es um die grundsätzliche Frage, ob Ankara auf dem Weg zu grösserer Demokratie auch seine blutige Geschichte verarbeite. Die Türken hingegen halten an der alten offiziellen Version fest, dass einfach unzählige Menschen, darunter eben auch Armenier, aber noch viel mehr muslimische Türken in den Wirren beim Zusammenbruch des Osmanischen Reiches getötet worden seien.

Zahme EU-Kommission

Wiewohl das Partnerschaftsdokument den türkischen Empfindlichkeiten überraschend weit entgegenkam, begann unterdessen innerhalb der Regierungskoalition in Ankara eine heftige Diskussion über die Forderungen der EU. Der für Europabeziehungen zuständige Minister, Mesut Yilmaz, verhehlte nicht seine Freude darüber, dass die Kommission «alle Vorbehalte» der Türkei über ethnische Gruppen «akzeptiert hat». Das Dokument spricht von keiner «Minderheit» in der Türkei. «Es gibt keinen Passus, der uns ernsthaft irritieren würde.» Die Kommission passte sich voll an die offizielle türkische Linie an und liess die Kurden unerwähnt, deren Existenz der Staat Atatürks seit der Gründung bis vor wenigen Jahren verleugnete. Die Kurden sind konsterniert.

Meinungswandel dank Satellit

Dennoch entbrannte nun in Ankara eine heftige Diskussion über die Forderung der EU, kurdische Radio- und Fernsehsendungen anzubieten. Yilmaz steht diesem Verlangen positiv gegenüber. Auch Ecevit beginnt sich in das scheinbar Unvermeidliche zu fügen: «Früher oder später» werde die Türkei «derartige Sendungen zulassen müssen», bemerkt der Premier und begründet seine Meinungsänderung mit dem technologischen Fortschritt: Dieser ermögliche es Kurden heute, kurdische Satellitensender aus Europa oder dem Nordirak zu empfangen. So sei es wohl besser, argumentiert auch Yilmaz, den Kurden «die Wahrheit» in ihrer Muttersprache über staatliche Sender darzulegen. Doch Ecevits wichtigster Koalitionspartner, die Partei der Nationalen Bewegu ng (MHP), sperrt sich. «Es ist unmöglich für die Türkei», auf das Verlangen nach «kulturellen oder ethnischen Rechten positiv zu reagieren», schäumt MHP-Chef Bahceli. Sendungen in kurdischer Sprache, auch wenn sie vom Staat dirigiert wären, «würden nur die Flammen ethnischen Konflikts entfachen».

BIRGIT CERHA, NIKOSIA