Neue Zürcher Zeitung (CH), 18.11.2000

Neue Grundlagen für den Bau von Dämmen

Empfehlungen einer internationalen Kommission

Die Weltkommission für Staudämme, ein Gremium von Interessenvertretern verschiedenster Herkunft, plädiert in einem Bericht für ein transparenteres Vorgehen bei der Beurteilung von Projekten für Grossstaudämme. Zu oft hätten in der Vergangenheit solche Projekte unnötige negative Folgen für Bewohner und Umwelt mit sich gebracht.

ach. Am Donnerstag hat in London die Weltkommission für Staudämme ihren Schlussbericht vorgestellt. Die Kommission unter dem Vorsitz des südafrikanischen Erziehungsministers Asmal hatte sich zum Ziel gesetzt, eine umfassende und unabhängige Untersuchung über Leistungen und Auswirkungen von grossen Staudämmen durchzuführen und über Alternativen zu dieser höchstumstrittenen Form der Wasser- und Energienutzung nachzudenken.

James Wolfensohn, der Präsident der Weltbank, die zusammen mit dem Umweltschutz- Dachverband IUCN - The World Conservation Union die Bildung der Kommission angeregt hatte, bezeichnete deren Schlussbericht als Beleg dafür, dass selbst völlig unterschiedliche Ausgangspositionen in einen Konsens münden könnten, sofern die Beteiligten nur guten Willen anden Tag legten. Damit spielte er auf den Sachverhalt an, dass sich die zwölf Mitglieder der Kommission auf einen Schlussbericht geeinigt hatten,obwohl sie scheinbar gegensätzliche Lager vertraten - die Industrie, Damm-Eigentümer, Umweltschützer, Regierungen.

Weder Verteidigung noch Verurteilung

Wolfensohn versicherte, die Weltbank werde den Bericht und dessen Empfehlungen zu Rate ziehen, wenn es darum gehe, die Sanierung oder den Neubau von Dämmen zu finanzieren. Entscheidend werde jedoch sein, dass auch die Empfängerländer und alle Geldgeber die Empfehlungen akzeptierten. Laut Wolfensohn hat die Zahlder von der Weltbank finanzierten Dammprojekte in den letzten Jahren stetig abgenommen. Finanzierte die Weltbank in den Jahren 1970 bis 1985 noch drei Prozent aller neuen Dammprojekte, so ist es gegenwärtig nur noch ein Prozent.

Maritta von Bieberstein, die Direktorin von IUCN - The World Conservation Union, wies in London vor allem auf die kritischen Befunde des Untersuchungsberichts hin. So habe die Kommission festgestellt, dass die Kostenvoranschläge beigrossen Dämmen oft deutlich überschritten worden seien; dass solche Bauwerke einen irreversiblen Verlust von Tier- und Pflanzenarten sowie von Ökosystemen bewirkt und dadurch auch zur Verarmung von Anwohnern geführt hätten. Es gehe im Schlussbericht jedoch, fügte von Bieberstein hinzu, nicht um eine Verteidigung oder umeine Verurteilung von grossen Dämmen; der Bedarf an Energie nehme zu, und es müssten Entscheidungen gefällt werden. Wichtig sei, dass betroffene Anwohner, Umweltschützer, Planer, Geldgeber und Industrie zusammenarbeiteten.

In einem Kommentar hat die «Financial Times» der Kommission zugebilligt, vernünftige und praktische Vorschläge vorgelegt zu haben. Die Zeitung vermisst allerdings klare Angaben darüber, wie genau die negativen Folgen von grossen Dämmen für die natürliche und soziale Umwelt einzuschätzen seien.

Mindestens 45 000 Grossstaudämme und Staumauern

bt. Der gut 300-seitige Bericht der Kommission, der zudem zahlreiche Anhänge umfasst, indenen auch statistisches Material enthalten ist, beginnt mit einer Bestandesaufnahme. Staudämme werden seit Jahrtausenden gebaut, sei es, um Überschwemmungen zu kontrollieren, Wasser für Mensch und Landwirtschaft bereitzustellen oder - in neuerer Zeit - zur Erzeugung von Strom. Laut der Kommission gibt es heute mindestens 45 000 Grossstaudämme, das heisst Dämme von mehr als 15 Metern Höhe oder einer Höhe von über 5 Metern und einem Speichervolumen von über 3 Millionen Kubikmetern. Fast die Hälfte der Flüsse wird irgendwo durch einen derartigen Grossstaudamm genutzt.

Ungefähr die Hälfte dieser Bauwerke wurde gemäss dem Bericht ausschliesslich oder hauptsächlich zu Bewässerungszwecken erstellt; auf rund 30 bis 40 Prozent der 271 Millionen Hektaren Land, die weltweit bewässert werden, wird der Anteil beziffert, der das Wasser von Stauseen erhält. Aber auch bei der Stromerzeugung und dem Hochwasserschutz spielen solche Dämme in Dutzenden von Staaten eine grosse Rolle. Etwa 40 bis 80 Millionen Menschen dürften durch derartige Landüberflutungen vertrieben und umgesiedelt worden sein.

Vor allem in den mittleren Jahrzehnten dieses Jahrhunderts sei der Bau von Grossdämmen als Inbegriff von Entwicklung und wirtschaftlichem Fortschritt angesehen worden, stellt die Kommission sodann fest. Einen Höhepunkt habe die Bautätigkeit in den siebziger Jahren erreicht, als im Durchschnitt täglich irgendwo auf der Welt zwei bis drei Dämme fertig gestellt worden seien. Fast die Hälfte, nämlich etwa 22 000 Grossstaudämme, befinden sich in China, 6575 werden in den USA, 4291 in Indien, 2675 in Japan und 1196 in Spanien gezählt. In ein Viertel der restlichen gut 7 000 Dämme teilen sich Kanada, Südkorea, die Türkei, Brasilien und Frankreich. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Bautätigkeit vor allem in Europa und in Nordamerika aber stark nachgelassen. In den USA werden inzwischen laut dem Bericht mehr Staudämme stillgelegt als neue erstellt. Am meisten neue Grossdämme gebaut werden dagegen in Indien und China. Gemäss den Autoren des Dammberichts gibt es keine Zweifel, dass Dämme einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklungund erhebliche Vorteile gebracht haben. In zu vielen Fällen habe dafür jedoch ein unnötig hoher Preis bezahlt werden müssen, sowohl was die sozialen Folgen für die vertriebenen Menschen als auch was die Umwelt betreffe. Auch die eigentlichen Ziele der Projekte wurden keineswegs immer erfüllt. Während Bauten zur Erzeugung von Strom ihr eigentliches Ziel meist in relativ hohem Masse erreicht hätten, sei das bei den Dämmen zu Bewässerungszwecken nur selten der Fall, und dasselbe gilt laut der Analyse für Projekte zur Wasserversorgung. Dort wiederum, wo es um Hochwasserschutz gehe, sei diese Funktion zwar oft erfüllt worden. Die Gefahren von Überschwemmungen seien jedoch wieder gestiegen,weil sich mehr Menschen in den gefährdeten Gebieten angesiedelt hätten.

Unterschiedliche Strategien

Das alles hat den Bau von derartigen Staudämmen sehr umstritten werden lassen. DasHauptziel des Berichts, dem zahlreiche Fallbeispiele zugrunde liegen, ist denn auch, solche nachteiligen Folgen in Zukunft wenn möglich zu minimieren oder ganz zu vermeiden. Im Vordergrund steht eine aktive und informierte Partizipation aller beteiligten und betroffenen Kreise entsprechend ihrer Rechte und der von ihnen zu tragenden Risiken am Entscheidungsprozess undeine gründliche und frühzeitige Evaluation allfälliger Alternativen. Der Bericht enthält dabei fürdie verschiedenen Parteien unterschiedliche Empfehlungen und will so als Basis für eine transparente und faire Entscheidungsfindung dienen.

Der Bericht ist auf der Internet-Site www.damsreport.org/ veröffentlicht.