Bremer Nachrichten, 16.11.2000

Der "Fall Öclan" in Straßburg

Menschenrechtsgerichtshof behandelt Beschwerden des PKK-Chefs

Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Unter äußerster Geheimhaltung reiste in dieser Woche eine Delegation des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes auf die türkische Gefängnisinsel Imrali. So gut abgeschirmt war der Besuch bei PKK-Chef Abdullah Öcalan, dass selbst die stets am Ufer des Marmara-Meers wachenden türkischen Fernsehteams erst Wind davon bekamen, als die Gruppe nach achtstündigem Aufenthalt auf Imrali wieder das Festland erreichte - und beharrlich schweigend das Weite suchte. Nicht nur der Besucherverkehr auf der Gefängnisinsel weist darauf hin, dass wieder Bewegung in den Fall Öcalan kommt. Die kurdische Presse in Westeuropa ruft ihre Leser seit Tagen zu Demonstrationen und Aktionen in der kommenden Woche auf, und in der Türkei machen die Hinterbliebenen von PKK-Opfern mobil. Denn am Dienstag beginnt vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg die Verhandlung über Öcalans Beschwerde gegen die Türkei - der Höhepunkt im "Jahrhundertprozess", wie die PKK das juristische Tauziehen um das Leben ihres Anführers getauft hat. Bis zum Urteilsspruch aus Straßburg hat die türkische Regierung den Vollzug des gegen Öcalan verhängten Todesurteils ausgesetzt; auf die Entscheidung in Straßburg muss endgültig die türkische Entscheidung über Leben oder Tod des Rebellenchefs folgen.

Öcalan hatte schon unmittelbar nach seiner Festnahme am 16. Februar vergangenen Jahres eine Beschwerde in Straßburg einreichen lassen, die sich gegen die Umstände seiner Ergreifung durch türkische Agenten im ostafrikanischen Kenia richtete. Nach seiner Verurteilung zum Tode durch ein türkisches Staatssicherheitsgericht am 29. Juni 1999 erweiterten seine Anwälte diese Klage um mehrere Beschwerden gegen die Verfahrensführung. Nachdem der türkische Berufungsgerichtshof das Todesurteil am 25. November 1999 bestätigte, erließ das Europäische Menschenrechtsgericht fünf Tage später eine einstweilige Verfügung gegen die Vollstreckung, der sich die türkische Regierung mit Rücksicht auf ihre Europa-Ambitionen zähneknirschend beugte. Mit der Verfügung wurde die Hinrichtung nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben; im anstehenden Hauptverfahren in Straßburg geht es nun zur Sache.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist ein Organ des Europarates, dem - im Gegensatz zur Europäischen Union - auch die Türkei angehört. Grundlage der Rechtsprechung des Gerichts ist die von allen Europaratsmitgliedern unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention, auf die sich auch Öcalan bei seinen Beschwerden beruft. Rund ein Dutzend seiner von der Konvention verbrieften Rechte habe die Türkei mit seiner Ergreifung und Verurteilung verletzt, argumentiert der PKK-Chef durch seine Verteidiger - darunter seine Rechte auf Leben, auf Schutz vor Folter, auf Freiheit, auf ein rechtsstaatliches Verfahren, auf Respektierung seines Privatlebens, auf Meinungsfreiheit und auf Schutz vor Diskriminierung. Das Verfahren verspricht politisch wie juristisch hoch interessant zu werden. So fordert Öcalan vom Gericht eine Bewertung seiner Ergreifung, in die außer der Türkei auch Deutschland, Italien, Russland, Kenia, Griechenland, die USA und Israel verwickelt waren - wenn auch mit sehr unterschiedlichen Rollen. Einer Einschätzung, ob die Einzelhaft des PKK-Chefs der Folter gleichkommt, könnte die Visite der Straßburger Delegation auf Imrali gedient haben. Besonders kitzlig ist Öcalans Einforderung seines Rechtes auf Leben. Denn in der Konvention heißt es,dass zwar niemandem das Leben genommen werden dürfe - außer in Vollstreckung einer gesetzlichen Todesstrafe. Das seither angehängte Zusatzprotokoll zur Abschaffung der Todesstrafe hat die Türkei als einziges Europaratsmitglied bis heute nicht unterzeichnet und sieht sich daher rechtlich nicht daran gebunden.