Frankfurter Rundschau, 16.11.2000

Fürsorgetag

Migrationsexperten rügen Ausgrenzung

Von Monika Kappus

Während Politiker über den Unions-Kampfbegriff "deutsche Leitkultur" streiten, vermissen jene, die konkret mit Migration befasst sind, interkulturelle Kompetenzen der Gesellschaft. Sozialarbeiter mahnen eine "Symmetrie zwischen den Kulturen" an - ein Aufeinanderzugehen unter der Annahme, dass Bevölkerungsgruppen verschieden, aber gleichwertig sind.

HAMBURG, 15. November. "Wir sind an der Hälfte der Integrationskonflikte selbst schuld, weil wir andere Kulturen ausgeschlossen haben", rügte die Göttinger Sozialdezernentin Dagmar Schlapeit-Beck am Mittwoch beim Deutschen Fürsorgetag in Hamburg. Sie plädierte dafür, im Zusammenleben zwischen Deutsch- und Nichtdeutschstämmigen von der Frauenbewegung zu lernen. Eine Quotierung bei der Stellenbesetzung in Rathäusern könnte helfen, Barrieren abzubauen, "intercultural mainstreaming" dafür sorgen, dass Belange von Migranten auf allen Politikfeldern mitbedacht würden.

In einem Göttinger Wohnquartier hätten Deutsche ihre ausländischen Nachbarn als Störenfriede empfunden, ohne dass die Migranten sichtbar gewesen seien, berichtete Schlapeit-Beck. Sie zog daraus den Schluss, die Einwanderer müssten aus der Anonymität geholt werden. Ein Nachbarschaftszentrum sei einzurichten, das kulturelle Begegnung ermögliche.

Auch Sprachbarrieren abzubauen, ist für die Göttingerin keine Einbahnstraße: Sie erwarte von Zuwanderern deutsch zu lernen. Doch könnten auch mehr Deutsche türkisch lernen, die am meisten verbreitete Fremdsprache hier zu Lande. Ein Dolmetscherdienst, wie er in der Göttinger Verwaltung eingeführt wurde, könne zudem das Verstehen erleichtern. Rathaus-Angestellte seien zu ermuntern, ihre Fremdsprachenkenntnisse zu erweitern.

Es gebe auch eine politisch gewollte, gezielte Form der Ausgrenzung, um Einwanderer zur Rückkehr zu bewegen, erinnerte die Migrationsforscherin Dita Vogel. Beispielhaft nannte sie die hohen Rückkehrquoten bei Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien. Vielen von ihnen sei es über Jahre verwehrt worden, ihre Fähigkeiten in die Gesellschaft einzubringen. Anderswo heiße so etwas Ressourcenverschwendung. Diejenigen, die blieben, hätten Jahre möglicher Integration verloren; bei den Rückkehrern müsse man sich fragen, was für ein Deutschlandbild sie exportierten. Vor dem Hintergrund des deutschen und europäischen Einigungsprozesses sei nicht nach einer Leitkultur zu fragen, sondern nach einer, die Menschen mit unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft sowie divergierenden Lebensläufen integrieren könne.

Wie staatlicher Input helfen kann, führte die Rechtssoziologin Anita Böcker aus Nijmwegen vor: Schulen in den Niederlanden sind demnach verpflichtet, auf eine multikulturelle Gesellschaft vorzubereiten; das Diskriminierungsverbot wurde um ein Gleichbehandlungsgebot ergänzt; Betriebe ab 35 Mitarbeitern sind gehalten, Zuwanderer einzustellen - allerdings fehlen Sanktionen, wenn sie dies nicht tun.