Westdeutsche Zeitung, 16.11.2000

Unzählige Augen blicken traurig herab

Von Stephanie Zeiler (Text) und Lore von der Linde (Foto)

Neuss. Irmtraud Höhne arbeitet ehrenamtlich als Betreuerin im Neusser Abschiebegefängnis an der Grünstraße. 80 Frauen warten hier oft monatelang auf ihre Ausweisung.

Ein massives grünes Stahltor versperrt die Sicht. Der Hof dahinter ist trostlos. Zertretenes Herbstlaub raschelt unter meinen Schritten. Hinter der nächsten Tür sticht mir Neonlicht in die Augen. Es ist 15 Uhr. Ich blicke nach oben. Ein erschreckendes Bild: Statt durch Mauern sind die Etagen durch beige Gitter getrennt. An den Absperrungen stehen viele Frauen. Unzählige traurige Augen blicken auf mich herab, unruhiges Getuschel erfüllt den Flur.

Pfarrer Kurt Feisel reißt mich aus der Beobachtung. "80 Frauen können hier untergebracht werden", erklärt er. Sie kommen aus Afrika, Lateinamerika, Asien und Osteuropa. Frauen aus 65 Nationen seien 1999 vertreten gewesen. "Die Frauen sind wegen keines Verbrechens hier, nur zur Sicherstellung der Abschiebung. Viele sind Armutsflüchtlinge oder politisch verfolgt." Manche warten monatelang hinter Gittern. "Die Anwohner wissen oft gar nicht, was hier vorgeht. Sie denken, die Frauen haben sich straffällig gemacht", ärgert sich Ehrenamtlerin Irmtraud Höhne: "Sie werden kriminalisiert."

Ein halbes Jahr nach Eröffnung der Neusser Justizvollzugsanstalt 1993 hat die gelernte Lehrerin ihre Betreuungsarbeit begonnen. Um fünf Afrikanerinnen und zwei Kurdinnen kümmert sie sich zurzeit sechs Stunden pro Woche. "Für viele sind wir der einzige Kontakt nach draußen", sagt die 59-Jährige betrübt. Denn Stellen für Sozialarbeiter oder Psychologen seien nicht vorgesehen. Nachmittags von 14 bis 17 Uhr dürfen die Frauen ihre Zellen verlassen. In den Fluren, Aufenthaltsräumen und auf dem Hof tauschen sie sich dann aus und warten, dass etwas passiert.

Zu dritt mischen wir uns unter die Frauen. Kaum hat Irena (alle Namen v. d. Red. geändert) den Pfarrer erspäht, fällt sie ihm um den Hals und redet auf ihn ein. Eine andere möchte telefonieren, aber das ist nur einmal pro Woche erlaubt. Die Frauen zahlen einen hohen Preis für ein Leben in Deutschland: Trennung von der Familie, Einsamkeit, Angst, Isolation. Endstation für viele ist das Bordell. Wer dort lande, sei meist nicht freiwillig da. "Die meisten werden misshandelt oder erpresst. Wir haben viele Opfer von Menschenhandel hier. Sie haben aus Furcht vor den Händlern Angst auszusagen. Eigentlich dürfen solche Opfer gar nicht eingesperrt werden."

Irmtraud Höhne erblickt eines ihrer Sorgenkinder. Anna lebt seit sieben Monaten in der Justizvollzugsanstalt an der Grünstraße. Ausdruckslos sieht mich die 28-jährige Liberianerin an. Sie hat tiefe Ränder unter den Augen und ein eingefallenes Gesicht.

Nach dem Tod ihrer Eltern ist sie ohne Papiere geflüchtet. Jetzt möchte sie zurück in ihre Heimat, endlich wieder frei sein, aber die Botschaft glaubt ihre Geschichte nicht. "Ich habe vergessen, wie es draußen ist. Das ist nicht normal", ruft sie. Dann ist es ruhig. Sie sitzt auf dem einzigen Stuhl vor dem kleinen Tisch mit dem Fernseher in ihrer Neun-Quadratmeter-Zelle. Dahinter das stählerne Etagenbett, daneben ein Spülstein und die Toilette. Anna steht auf und geht zu ihrer Betreuerin. "Mama" nennt sie sie zärtlich und lehnt den Kopf traurig an ihre Schulter.

Ich verabschiede mich, denn gleich ist es 17 Uhr und die Frauen müssen zurück in ihre Zellen. Vor der grünen Stahltür werfe ich einen letzten Blick nach oben. Immer noch stehen einige Frauen dort und blicken durch die Stäbe zu mir herab. Gedanken an ihr Schicksal gehen mir durch den Kopf. Frauen, die hinter Gittern wie Tiere warten: dass es 14 Uhr wird, dass ihre "Mama" kommt, dass sie telefonieren dürfen, dass sie wieder frei sind.