junge Welt, 16.11.2000

Arbeitet Israel die Todeslisten ab?

Gezielte Angriffe auf Tanzim-Führer. Libanisierung des Palästinakonfliktes

Seit Wochen gibt es täglich das gleiche Bild: Palästinensische Jugendliche werfen Steine auf israelische Soldaten und riskieren, dafür erschossen zu werden. In den letzten Tagen aber scheint der Kampf gegen die israelischen Besatzer eine neue Dimension angenommen zu haben. Immer mehr Palästinenser bewaffnen sich und folgen den lokalen Führern der Tanzim-Milizen, über die Palästinenserpräsident Yassir Arafat längst die Kontrolle verloren hat. Die Tanzim läßt sich von der Taktik der süd-libanesischen Hisbollah inspirieren, die besonders unter jugendlichen Palästinensern Heldenstatus genießt. Schließlich sind die schiitischen Gotteskrieger die einzigen, die der israelischen Armee in einem Jahrzehnte dauernden, verlustreichen Kleinkrieg eine vernichtende Niederlage beigebracht haben.

Doch nur selten leben die palästinensischen Kämpfer dort, wo ihre Überfälle auf israelische Patrouillen stattfinden. Obwohl den Israelis dies nach eigenem Eingeständnis bekannt ist, feuern die Soldaten ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung auf die Häuser und Wohnungen der Palästinenser, zunehmend mit schweren Waffen. Wegen dieser offen zur Schau gestellten Mißachtung menschlichen Lebens, sofern es sich lediglich um arabisches Leben handelt, durch die israelischen Soldaten sympathisiert selbst die sonst eher zurückhaltende palästinensische Mittelklasse mit den bewaffneten Kämpfern der Tanzim. Hatten die Palästinenser bis vor kurzem noch geglaubt, daß israelische Helikopter niemals Raketen in eine belebte Dorfstraße feuern würden, so fühlt man sich seit dem kürzlichen Angriff auf das Auto des militanten lokalen Tanzim-Anführers Hussein Abejad eines Besseren belehrt. Bei dem Angriff zweier Apache- Kampfhubschrauber mit panzerbrechenden Raketen wurden auch etliche Zivilisten, die in der Dorfstraße ihren Geschäften nachgingen, ermordet bzw. schwer verletzt. Wenn dies auch eine neue Eskalation der Gewalt darstellt, so ist der Beschuß von palästinensischen Wohngebieten aus Helikoptern oder mit Panzergranaten schon längst zur Regel geworden.

Der israelische Terroranschlag aus Hubschraubern gegen Tanzim-Anführer Hussein Abejad könnte jedoch auf den Beginn einer neue Phase der Kampftaktik der israelischen Armee hindeuten, nämlich auf die »Libanisierung« des Konfliktes. Israel hatte gegen Hussein Abejad dieselbe Methode angewendet wie 1992 gegen die Hisbollah, als Scheich Abbas Musawi, ein Hisbollah-Anführer im Süd- Libanon, in seinem Auto zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn von Raketen getötet wurden, die ebenfalls aus einem israelischen Hubschrauber abgefeuert worden waren. Ehud Barak, der israelische Premierminister, ist scheinbar fest entschlossen, weiter an der Gewaltspirale zu drehen. Die britische Wochenzeitung Sunday Times berichtete letzten Sonntag von einem israelischen Hubschrauberpiloten der Reserve, der vergangene Woche behauptet habe, daß bei der Armee eine Todesliste mit 22 Namen von Tanzim-Anführern existiert, die sich nicht mehr der Kontrolle Arafats fügen. Deren Ermordung sei befohlen worden. Deshalb stünden Kampfhubschrauber, wie die, die zur Ermordung von Abejad eingesetzt worden waren, rund um die Uhr in höchster Alarmbereitschaft.

Dies scheint die Meldung zu bestätigen, daß der israelische Geheimdienst gemeinsam mit den von der CIA ausgebildeten Sicherheitskräften Arafats alle unabhängigen Anführer der militanten Tanzim eliminieren will, um so die politische und militärische Kontrolle des gemäßigten Arafat über die verschiedenen Palästinenserbewegungen wiederherzustellen. Die Tanzim-Anführer aber scheinen gewarnt. »Vorher haben wir nur geschossen, um den Israelis eine politische Botschaft zu übermitteln«, zitiert die Sunday Times einen der schwerbewaffneten lokalen Anführer. Nach der Ermordung ihres Kampfgefährten Hussein Abejad wollen sie jedoch keinerlei Rücksicht mehr nehmen.

Mittlerweile gehört es zum »normalen« Tagesgeschehen in den besetzten Gebieten, daß die israelische Armee mit Panzern und Raketen Wohnhäuser und Apartmentblöcke unter Feuer nimmt. Die palästinensische Bevölkerung hat feststellen müssen, daß die israelische Führung entschlossen ist, die Wohngebiete der Palästinenser zur regelrechten Kriegszone zu machen, in der auch schwere Waffen zum Einsatz kommen. Das wäre von den Menschenrechtskriegern in den NATO- Regierungen schon längst als Kriegsverbrechen verurteilt worden, wenn die Täter beispielsweise die Serben gewesen wären.

Rainer Rupp