Neue Zürcher Zeitung (CH), 16.11.2000

Atatürks Geist in Südostanatolien

Totale Nutzung von Euphrat und Tigris am Oberlauf

Die Türkei macht sich das Wasser von Euphrat und Tigris durch ein Netz von Staudämmen in Südostanatolien umfänglich nutzbar. Die Früchte dieses halb fertiggestellten Riesenwerks, das die Region grundlegend verändert, lassen sich zwar in Form von Energieproduktion errechnen, sind aber für die Bewohner der Gegend wenig fassbar.

vk. Halfeti, Ende Oktober

Das Wasser des Stausees von Birecik umspült schon fast die untersten Treppenstufen des Eingangs zum Postgebäude von Halfeti. Währendeine Motorsäge die stolze Pinienreihe am Ufersaum niedermäht und zu Brennholz zerkleinert, türmen sich die Bürotische und Aktenschränke auf dem Vorplatz zum Abtransport. Nebenan gesellen sich Bruchstücke von Türrahmen und hellblauen Fensterläden zum Kleinholz. Vom Obergeschoss des alten Schulhauses, von dem nur noch Dach und Fensterstürze über Wasser sind, legen Fischerboote ab und ziehen ihre ruhigen Bahnen. Im neuen Schulhaus, gleich obenan, lärmen unbekümmert die Kinder, blicken dann aber beunruhigt herüber zur x-ten Besucherdelegation. In den nächsten Tagen steigt der See infolge der ersten Herbstregen noch um knapp einen Meter zur Maximalhöhe; alles weitere Wasser wird dann im Stauwerk abgelassen und im nächstunteren Becken aufgefangen. Auf der Strasse stehen still die Männer und suchen sich mit den gewaltigen Veränderungen in diesem Bezirkshauptort abzufinden; unter anderen Umständen wäre so etwas mit den Massstäben einer Naturkatastrophe zu messen. Während der Sommermonate ist der gestaute Euphrat unaufhaltsam zum See angewachsen, der schliesslich 40 Prozent des lieblichen Fleckens in den Hügeln über dem Fluss verschlang.

Vom Olivenanbau zum Windsurfen?
Ein türkischer Beamter weist auf den blauen See hinaus und findet die tröstlichen Worte: «Hier werden wir ein Wassersportzentrum eröffnen. Und dort drüben in den schönen Felsen entsteht ein Klettergarten.» Die Reaktion der Bauern von Halfeti, die während Jahrhunderten Schafe und Ziegen züchteten und ihre weiten Haine mit Pistazien und Oliven hegten, ist im besten Fall Achselzucken. Sollen sie fortan städtischen Besuchern Unterricht im Windsurfen erteilen? Sie wollen zwar gern an eine leuchtende Zukunft der Gegend glauben, kriegen aber ihre praktischen Vorboten nicht zu fassen, zumal die versprochenen Bewässerungsanlagen hier noch meist ausstehen. Schon im Jahr 1998 boten die Behörden eine Reihe von Umschulungskursen für die Betroffenen an. Das Fach Bienenzucht erhielt viermal soviel Zulauf als zum Beispiel Gemüseverarbeitung oder Auto fahren. Auch Fischzucht, modernisierte Kleintierhaltung, Pilzproduktion und Treibhausplantagen sollen so eingeführt werden.

Acht Kilometer zurück, an einer Strassenkreuzung auf der kahlen Hochebene, steht die Klötzchensiedlung Karaotlak. Für die Umsiedlung der rund 6500 Betroffenen aus Halfeti und zwölf andern Dörfern hat die Provinzverwaltung hier rund 220 Betonkuben in messerscharfen Reihen aufgestellt. Die Häuser sind alle ocker oder olivgrau, die Gärten völlig kahl, dafür gibt es ein Einkaufszentrum, eine Schule und eine Klinik. Viele Opfer zogen eine reine Geldentschädigung vor und suchten ein neues Dasein in der Stadt. Offizielle Umfragen haben ergeben, dass 67 Prozentder staatlich verpflanzten Menschen und 89 Prozent der selbständig Umgesiedelten in ihre Heimat zurückkehren möchten, zumindest in die Umgegend des alten Dorfs. 70 Prozent von ihnen möchten zusammen mit der angestammten Dorfgemeinschaft umziehen. Und die meisten haben ihre Entschädigungen gerichtlich als zu niedrig angefochten. Nicht von ungefähr ist das modernste aller neuen Geschäftshäuser am Hauptplatz der Provinzhauptstadt Urfa fast ganz von Anwaltskanzleien belegt. Der ganze Stausee von Birecik, ein Menschenwerk von 45 Quadratkilometern Fläche, hat rund 30 000 Personen betroffen.

Staubecken von der Quelle bis zur Grenze
Doch diese Dimensionen waren den türkischen Ingenieuren viel zu bescheiden. Birecik ist der vierte grosse Staudamm mit Elektrizitätswerk allein am Oberlauf des Euphrats, und ein fünfter, Karkamisch, steht weiter unten, nur vier Kilometer vor der syrischen Grenze. Am Tigris finden sich auch bereits 3 grössere Laufkraftwerke, und 5 weitere sind geplant. Die Nebenprojekte eingeschlossen, stehen insgesamt schon 12 Dämme. Weiter sind das Damm-Werk von Ilisu mit 1200 Megawatt Kapazität und der Damm von Cizre geplant, das zweite Werk wieder hart an der syrischen und später irakischen Grenze.

Die Ingenieure berufen sich stolz auf eine Anweisung des Republikgründers Atatürk, der schon im Jahr 1936 das Flusswasser in Südostanatolien nutzen wollte. 1974 hatten sie nach achtjähriger Bauzeit die Hauptprobe fertiggestellt, das Staukraftwerk von Keban am oberen Euphrat. Und1980 legten sie unter dem Namen GAP eine integrierte Planung dafür vor, wie Euphrat und Tigris auf türkischem Boden zu nutzen sind, und zwar ganz. Die beiden Ströme Mesopotamiens werden quasi von ihrer Quelle bis zur Grenze in eine Kette von Staubecken verwandelt, mit allen Verästelungen 22 Staudämme und 19 Kraftwerke.

Bis 2010 sollen diese Herkulesarbeiten fertiggestellt sein; dann würden rund 27 Milliarden Kilowattstunden Strom produziert, mehr als 40 Prozent der türkischen Gesamterzeugung, und 1,7 Milliarden Hektaren oder ein Fünftel allen bewässerbaren Ackerlandes der Türkei sollen bewässert werden. Der geplante Aufwand für das GAP ist 32 Milliarden Dollar. Allein die zwei grössten Kraftwerke, Atatürk und Karakaya, haben bis zum Herbst 1999 Energie im Gegenwert von rund 10 Milliarden Dollar erzeugt; der bisherige GAP-Gesamtaufwand ist 14 Milliarden Dollar. Im ersten Halbjahr 2000 produzierten die bestehenden 6 GAP-Kraftwerke 7,8 Milliarden Kilowattstunden Elektrizität. Im Rahmen der gesamten Energieproduktion des Landes sind das allerdings nur 11,4 Prozent. Doch zwei Drittel der GAP-Kraftwerke stehen in Betrieb. Die Bewässerung hingegen erreicht erst 12 Prozent des vorgesehenen Ackerlandes, vor allem die Baumwollplantagen der Harran-Ebene.

Das GAP-Projekt will aus der jahrhundertelang vernachlässigten Besenkammer der Türkei, dem kurdischen Krisengebiet südlich des Taurusgebirges, ein Landwirtschaftsparadies und einen Entwicklungsmagneten machen. Die Ingenieuresagen, sie erwarteten eine Vervierfachung des türkischen Bruttoinlandproduktes, eine Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens und die Schaffung von Arbeitsplätzen für fast 4 Millionen Personen. Der Anteil von landlosen Bauern soll von 40 Prozent auf 25 Prozent absinken. Bei alledem wird aber das Angesicht der Erde brutal verändert. Die 22 geplanten Staudämme verwandeln ein Gebiet von 74 000 Quadratkilometern, fast zweimal so gross wie die Schweiz, von einer dürren, heissen Ebene in eine Seenlandschaft. Bereits wurden über 355 000 Personen umgesiedelt oder ihres angestammten Lebensunterhalts beraubt. Durch die Verdunstung des Seewassers wird das Klima der Region feucht, es fällt mehr Regen, ungewohnte Insekten gedeihen, neue Infektionskrankheiten befallen die Menschen und unbekannte Schädlinge dezimieren die Ernten. Unersetzliche hethitische, hellenistische und römische Altertümer versinken in den Fluten.

Abschreckende Vorbilder
Für jedes dieser Probleme schaffen die Ingenieure neue Expertenausschüsse und Pläne. Berater aus dem Ausland mahnen mit negativen Erfahrungen aus früheren Megaprojekten. So liess sich etwa bei der Nutzung des Hoover-Damms in Nordamerika oder des ägyptischen Assuan- Damms beobachten, dass der bewässerte Ackerboden zusehends versalzt und der Triebschlammim Stausee aufgefangen anstatt aufs Land hinausgetragen wird. Und der Aralsee, der wegen der grosszügigen Stauung seiner Zuflüsse zugunsten der Baumwollkulturen auf ein Drittel seiner Grösse geschrumpft sowie versalzt und vergiftet ist, zählt längst zu den abschreckenden, von Menschen gemachten Umweltkatastrophen. Doch dietürkischen Ingenieure sind ihrer Sache bombensicher, weisen Vorschläge zur Redimensionierungallzu grosser Dämme ab. «Wir haben alle Projekte genaustens überprüft,» erklärt ein leitender Planer der türkischen Wasserbaubehörde, «und die im GAP vorgesehenen Arbeiten sind die bestmögliche Ausführung des Vorhabens.»

Es scheint die türkischen Planer auch wenig zu kümmern, dass Euphrat und Tigris je noch über tausend Kilometer durch Syrien und den Irak fliessen, ja dass sie die Zivilisation Mesopotamiens überhaupt begründet haben. Der Präsident der GAP-Verwaltung sagt: «Es nützt unseren Nachbarn am Unterlauf, wenn wir den Abfluss von Euphrat und Tigris regulieren und Überschwemmungen verhindern. Zudem lassen wir auch in den Trockenmonaten regelmässig Wasser abfliessen.» Doch was bleibt für die Nachbarn übrig, wenn die Türkei fast alles Wasser nutzt? Ausländische Experten schätzen, dass nach der Vollendung des GAP die Abflussmenge auf gegen einen Drittel schrumpfen könnte. Allein in den türkischen Speicherseen verdunsten jährlich zwei Prozent des Wassers, und mit der zunehmenden Bewässerung werden bedeutendere Mengen im Boden versickern.

Regionalpolitik mit Wasser
Die Türkei nutzt ihre Kontrolle über das Wasser zudem als politischen Hebelarm. Seit der Eröffnung des Atatürk-Damms 1993 enthielt sie Syrien mehrfach für einige Wochen fast jegliches Euphratwasser vor. Und in diesem Herbst liess die Türkei mit Hinweis auf eine regionale Regenknappheit nur einen Drittel der vertraglich garantierten Wassermenge von 500 Kubikmetern pro Sekunde abfliessen - das zu einem Zeitpunkt, da der leitende Ingenieur des Atatürk-Damms angab, der 800 Quadratkilometer grosse Stauseeenthalte immer noch rund ein Viertel der nutzbaren Speichermenge. Die Regierung in Ankaraschützt gegenüber Damaskus Knappheit vor, bietet aber zur selben Zeit Israel und anderen Staaten des Nahen Ostens Wasser in rauen Mengen zum Kauf an. Nach gängigen Rechnungen ist die Türkei mit rund 2800 Kubikmetern je Einwohner und Jahr im regionalen Vergleich reichlich mit Wasser gesegnet; Syrien hat rund 700, Israel 300 und «Palästina» rund 150 Kubikmeter pro Person. Wer Halfeti im Wasser ertrinken sieht, kann an diesem Reichtum auch gar nicht zweifeln.