Herborner Tageblatt, Dill-Post, Haigerer Zeitung, 13.11.2000

Kurz vor dem Abi soll Kamuran Demir in die Türkei abgeschoben werden

Freunde und Mitschüler kämpfen für den 19-Jährigen aus Fleisbach

Von Angelika Plietzsch, 02771 / 874-400, redaktion.dp@mail.mittelhessen.de

Sinn-Fleisbach (Lahn-Dill-Kreis) Hunderttausende demonstrierten am Donnerstag für Menschlichkeit und Toleranz. Rezzo Schlauch schrieb in einem Kommentar in unserer Zeitung: "Wir stehen zusammen gegen das Wegschauen und die Gleichgültigkeit. Wir wollen ein Land, in dem kein Mensch Angst haben muss vor Verfolgung und Gewalt." Wenn Kamuran Demir diese Worte liest, müssen sie ihm wie ein Hohn vorkommen, bei ihm hört die Menschlichkeit scheinbar auf, denn der 19-jährige Schüler des Herborner Johanneum-Gymnasiums soll am 20. November, wenn kein Wunder mehr geschieht, in seine Heimat Kurdistan abgeschoben werden, die er nicht kennt und deren Sprache er nicht spricht.

Als Kamuran Demir mit seiner Familie aus Nusaybin nach Deutschland kam, war er erst sieben Jahre alt. Keiner hatte den kleinen Jungen gefragt, ob er in Zukunft in diesem fremden Land leben wollte. Dass die Kurden hierhin kamen, hatte verschiedene Gründe. Musa, der Vater, wurde aufgrund seiner kurdischen Herkunft vom türkischen Staat verfolgt. Zwei Gefängnisaufenthalte, Schläge und Androhung von Folter sollten ihn zu bestimmten Aussagen zwingen. Es wurde von ihm gefordert, Landsleute zu verraten.

Nach zwölf Jahren ist hier seine Heimat
Nach ihrer Ankunft in Deutschland stellte die Familie einen Asylantrag und wurde in ein Asylantenheim in Gießen eingewiesen. Nach etwa zwei Monaten zogen die Demirs nach Arborn und später nach Fleisbach, wo sie noch heute leben. 1989 wurde der Asylantrag erstmalig abgelehnt. Auch ein weiterer Antrag von 1991 wurde abschlägig beschieden. Bis 1998 erhielt die Familie Demir keine weitere Post, so dass sie in dem Glauben lebte, hier in Deutschland bleiben zu können.

Völlig überraschend kam 1998 ein Brief von der Ausländerbehörde mit der Ankündigung der bevorstehenden Abschiebung innerhalb der nächsten zwei Wochen. Als ein Freund der Demirs bei der Ausländerbehörde in Wetzlar nachfragte, warum das so lange gedauert habe, erhielt er die Auskunft, "das sei wohl vergessen worden." 1999 wurde ein neuer Asylantrag gestellt und wieder abgelehnt. Mittlerweile lebte die Familie bereits elf Jahre in Deutschland und beantragte daher eine Aufenthaltserlaubnis nach der sogenannten "Altfallregelung". Auch dieses Ersuchen wurde abschlägig beschieden.

Der bisher letzte Brief der Ausländerbehörde Gießen war an Kamuran Demir adressiert und kündigt seine Abschiebung für den 20. November dieses Jahres an, es sei denn, er würde freiwillig ausreisen. Offenbar hat die zuständige Behörde ohne jede Rücksprache mit Kamuran das Abschiebeverfahren nach Eltern und Kind getrennt. Es geht also nun nicht mehr darum, die Familie gemeinsam außer Landes zu bringen, sondern jedes Familienmitglied getrennt, um so den Druck auf jeden Einzelnen zu erhöhen. Es ist Kamuran und seinen Freunden unverständlich, dass ein junger Mann, der ohne persönliches Verschulden nach Deutschland gekommen ist, nach 12 Jahren in ein Land abgeschoben werden soll, in dem die Menschenrechte oft genug mit Füßen getreten werden. Eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen ist für den 19-Jährigen nicht möglich. Nach dem jetzigen Stand der Dinge steht er vor einem großen Dilemma. Reist er freiwillig aus, darf er mehrere Jahre Deutschland und die EU nicht betreten, auch nicht zum Besuch seiner Eltern.

Politiker eingeschaltet, bisher ohne Erfolg
Für Kamuran ist Deutschland zu seiner Heimat geworden, seine Freunde leben hier und er möchte im nächsten Jahr im

Johanneum-Gymnasium sein Abitur ablegen, um dann Informatik zu studieren. Wenn er jetzt in ein ihm fremdes Land abgeschoben wird, wo er mit niemanden sprechen kann, steht er ohne Schulabschluss da. Er versteht die deutsche Behördenwelt nicht, die ohne Einfühlungsvermögen so mit ihm umgeht. Außerdem sorgt er sich um seine Eltern, die beide krank sind und die er seit Jahren aufopferungsvoll pflegt. Was sollen sie anfangen ohne ihn, der sich Tag und Nacht um sie kümmert?

Aber Kamuran Demir steht nicht allein da, Nachbarn und zahlreiche Bürger Fleisbachs wollen, dass der sympathische junge Mann weiter mit ihnen lebt. Ein Freund schrieb einen Brief an den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten mit der Bitte, in diesem Härtefall Gnade walten zu lassen. Von Johannes Rau kam die Antwort, sich ans Hessische Innenministerium zu wenden. Auch die SPD-Landtagsabgeordnete Barbara Bergelt wurde angeschrieben. Sie antwortete prompt und teilte mit, dass sie noch einmal ein Petitionsverfahren anstreben will.

Jetzt wird es höchste Zeit, dass etwas geschieht, die angedrohte Abschiebung am 20. November hängt wie ein Damoklesschwert über Kamuran Demir. Was ihn besonders ärgert ist, dass man ihn wegschickt und andererseits Ausländer mit der Greencard nach Deutschland holt, denn er ist schon da und auch integriert.

Offensichtlich hört aber im konkreten Einzelfall die am 9. November so oft strapazierte Menschlichkeit auf - doch wieder nur Sonntagsreden der Politiker?