Frankfurter Rundschau, 13.11.2000

Im Fadenkreuz

Wie türkische Militärs mit Missliebigen umgehen

Von Gerd Höhler

Eine Million Lira Schmerzensgeld verlangt die türkische Parlamentsabgeordnete Nazli Ilicak von den Militärs. Auf diese Summe hat sie jetzt den Generalstab verklagt. Umgerechnet sind das drei Mark, ein Klacks, gerade mal genug für ein paar Kopfschmerztabletten. Der Streitwert ist lächerlich, das Verfahren hochbrisant.

Die türkischen Militärs, so Ilicaks Vorwurf, ließen in jüngster Vergangenheit Pläne zur gezielten Diskreditierung missliebiger Journalisten, Intellektueller und Politiker ausarbeiten, unter ihnen auch Ilicak. Die Abgeordnete der islamistischen Tugend-Partei kann ihre Behauptungen belegen. In Ankara präsentierte sie diese Woche auf einer Pressekonferenz ein im Auftrag des türkischen Generalstabs ausgearbeitetes Memorandum. In dem Schriftstück werden Politiker, Journalisten und Intellektuelle der Zusammenarbeit mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und, generell, subversiver Ansichten verdächtigt. Die Militärs gehen sogar so weit, die einst von ihrem Idol Mustafa Kemal Atatürk gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) als eine Art Tarnorganisation der PKK hinzustellen.

In einer im Juni dieses Jahres verfassten Expertise der Generäle heißt es, der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan arbeite auf eine Allianz mit der CHP hin. Der Vorsitzende der ältesten türkischen Partei, Deniz Baykal, reagierte mit Empörung auf den Bericht: "Die CHP ist keine Untergrundorganisation!" Auch den Bestrebungen zu einer Reform der 1982 von ihnen konzipierten Verfassung, für deren Überarbeitung sich unter anderen Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer ausgesprochen hat, können die Generäle nichts abgewinnen. Dahinter vermuten sie "Separatisten", "linke Intellektuelle" und "reaktionäre Kreise". Die geplante Verfassungsreform, so stellt das Memo fest, würde den Einfluss der türkischen Streitkräfte mindern und die weltliche Verfassungsordnung des Landes gefährden.

Voll des Lobes ist das Gutachten der Generäle nur für die rechtsextremistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Sie werde sich, so frohlocken die Militärs, dank der "intensiv nationalistischen Gesinnung ihrer Wähler" allen Versuchen entgegenstellen, "die Grundprinzipien der Republik anzutasten". Der Nationale Sicherheitsrat, so das Gutachten der Generäle, müsse nun einen Ausschuss einsetzen, der die geplanten Verfassungsänderungen auf ihre Verträglichkeit mit den "Grundprinzipien der Republik" hin zu überprüfen habe. Damit wird erneut deutlich, dass die Militärs den Sicherheitsrat als das eigentliche politische Entscheidungsgremium des Landes verstehen. Zwar gibt der Rat laut Verfassung nur "Empfehlungen", die von der Regierung "mit Vorrang" zu behandeln sind. Kein Kabinett widersetzte sich aber bisher ungestraft den Vorgaben der Generäle.

Das Memorandum macht detaillierte Vorschläge, wie missliebige Politiker und Journalisten öffentlich auszugrenzen seien. Journalisten, die den Streitkräften wohlgesonnen sind, gelte es "anzusprechen", die öffentliche Meinung müsse man "in die richtige Richtung leiten", fordert das Gutachten.

Die Militärs dementieren die Echtheit der jetzt von Ilicak veröffentlichten Dokumente nicht. Bei den Papieren handele es sich allerdings nur um "Planspiele", überdies habe die Abgeordnete sie sich "illegal" beschafft. Nach Ilicak will jetzt auch der frühere Vorsitzende der türkischen Menschenrechts-Vereinigung (IHD), Akin Birdal, die Generäle verklagen. Der Bürgerrechtler, der 1998 bei einem von Rechtsextremisten verübten Attentat lebensgefährlich verletzt wurde, sieht sich von den Militärs "aufs Korn genommen". Birdal war vor dem Anschlag in offenbar lancierten Presseberichten als Kollaborateur der PKK hingestellt worden.

Ob die von Ilicak und Birdal angestrengten Gerichtsverfahren überhaupt in Gang kommen und wie sie gegebenenfalls ausgehen werden, bleibt abzuwarten. Aber weit unbequemer als die möglichen juristischen Verwicklungen ist für die türkischen Generäle die nun immer intensivere Diskussion um die Rolle des Militärs in der Politik des Landes.

"Eine neue Ära" sei mit der Veröffentlichung der jüngsten Dokumente angebrochen, meint der prominente Journalist Mehmet Ali Birand, der in einem 1998 von den Generälen ausgearbeiteten Papier ebenfalls als PKK-Sympathisant an den Pranger gestellt wurde und deshalb seinen damaligen Job verlor.

Die dominierende Rolle der türkischen Militärs, die seit 1960 drei Mal putschten, beschäftigt auch die Europäische Union.In ihrem jetzt veröffentlichten Gutachten zur Beitritts-Partnerschaft mit den EU-Kandidaten verlangt die Brüsseler Kommission von der Türkei unter anderem, das Militär unter zivile Kontrolle zu bringen. Aber bisher zeigen die türkischen Generäle keine Bereitschaft, sich von der Rolle als Oberaufseher des Landes zu verabschieden.