Bremer Nachrichten, 11.11.2000

Türkische Regierung erstmal im Schmollwinkel

Selbst die zurückhaltend formulierten Beitrittsbedingungen der EU rufen in Ankara große Verärgerung hervor

Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten

Ankara. "Demokratisierung ist für die Türkei so wie Nikotinentzug für einen Raucher", stellte eine türkische Kommentatorin am Donnerstag fest. "Es ist vernünftig, schwer etwas dagegen einzuwenden und leicht anzukündigen - aber furchtbar schmerzhaft zu verwirklichen." Eine mehr als 70-jährige Gewohnheit könne eben nicht abgelegt werden, "ohne das ganze Leben umzukrempeln und alle Reflexe umzustellen". Nun habe der europäische Arzt dem türkischen Patienten den Nikotinentzug verordnet - und Ankara damit in eine ziemlich schwierige Lage gebracht: "Vom Behandlungstisch springen kann der Patient nicht, denn er liebt das Leben und will seinen Lebensstandard verbessern - doch von den Zigaretten kann er auch nicht lassen."

Die Prognose der Leitartiklerin Gülay Göktürk für ihr Land ist pessimistisch: "Der Patient wird beim Arzt brav nicken und aller Welt erzählen, dass er mit dem Rauchen aufhört. Dann wird er auf die Toilette schleichen und heimlich weiter rauchen."

Der behandelnde EU-Kommissar Günter Verheugen hat versucht, dem türkischen Patienten die Reform möglichst leicht zu machen. So sieht die EU-Beitrittspartnerschaft keinen kalten Entzug vor, sondern einen Stufenplan zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, nach dem die Türkei es kurzfristig etwa bei der Nicht-Vollstreckung von Todesurteilen belassen kann und die Todesstrafe erst bis zum Jahr 2004 auch formell abschaffen muss; Aufschub gibt es auch für die Aufhebung des Ausnahmezustands im Südosten des Landes und für die Einschränkung der Rolle der Militärs im Lande.

Besondere Mühe gab sich die EU-Kommission, dem Patienten möglichst schonend beizubringen, wie stark er sein Leben verändern muss: Statt die Folterpraktiken der türkischen Sicherheitskräfte zu geißeln, wird in dem Dokument empfohlen, die Einhaltung der Anti-Folter-Konvention zu sichern; statt das willkürliche Verbot von Parteien zu kritisieren, wird gefordert, die Organisationsfreiheit zu achten. Vor allem auf das Reizwort "Kurde" verzichtete die EU in dem Dokument völlig und fordert lediglich die völlige Freigabe der "Muttersprache" für alle Staatsbürger. "Das ist sehr höflich formuliert", bemerkt die liberale Zeitung "Milliyet". Damit die ganze Tragweite begriffen werde, müsse nun aber alles in deutliches Türkisch übersetzt werden.

Denn in der Substanz bleibt die EU - Höflichkeit hin oder her - bei der Forderung nach vollständiger Erfüllung der Kopenhagener Kriterien. Der Verzicht auf explizite Nennung der Begriffe "Kurden" und "Minderheit" erspart allen Beteiligten zwar einen weiteren Wutanfall aus Ankara, er erspart der türkischen Regierung aber keine der notwendigen Reformen: Wenn allen Staatsbürgern der Türkei erst einmal alle individuellen Grundrechte, Muttersprache und kulturelle Rechte sicher sind, dann kommen auch die Kurden zu ihrem vollen Recht - und mit ihnen die anderen, weniger beachteten Minderheiten in der Türkei.

Eben weil die EU bei allen guten Worten keine Abstriche von der Forderung nach voller Demokratisierung macht, ist Gülay Göktürk von "Sabah" nicht die einzige türkische Beobachterin, die für die Umsetzung schwarz sieht. "Die EU fordert, den Nationalen Sicherheitsrat zum beratenden Gremium herabzustufen und der Regierung zu unterstellen", bemerkte etwa der Leitartikeler Taha Akyol von "Milliyet": "Ob die Militärs dem wohl zustimmen werden?" Andere Kommentatoren wiesen darauf hin, dass Ankara trotz aller Versprechungen auch bisher keine großen Reformschritte gemacht habe.

Diese pessimistischen Prognosen zu erfüllen, schickte Ankara sich schon unmittelbar nach der Vorlage des Brüsseler Dokumentes an. Statt den guten Willen zu honorieren, den die EU mit ihren zurückhaltenden Formulierungen bewies, und ihren eigenen Willen zu den geforderten Reformen kund zu tun, zog sich die Regierung am Donnerstag in den Schmollwinkel zurück, um nach den rechten Widerworten zu sinnen. Die "Kurden"-Frage war es dank umsichtiger Redaktion des EU-Textes diesmal zwar nicht, dafür erregte eine nicht genehme Formulierung zur Zypern-Frage den Unmut der türkischen Politiker. Den damit hergestellten Zusammenhang zwischen den Zypern-Verhandlungen und der türkischen EU-Kandidatur lehne die Türkei ab, erklärte die Regierung; sie werde diesen Teil der EU-Forderungen nicht akzeptieren. Doch von der Zurückweisung einer der EU-Kriterien bis zum Scheitern des ganzen türkischen EU-Projekts ist es nur so weit wie von der ersten Rückfall-Zigarette bis zum erneuen Kettenrauchen. "Das Gift ist so leicht nicht mehr aus dem Körper zu bekommen", meint Göktürk.