Frankfurter Rundschau, 09.11.2000

EU gibt drei Anwärtern Bestnoten

Polen, Ungarn und Estland im Fortschrittsbericht Spitze / Türkei muss nachsitzen

Von Martin Winter

Der mit Spannung erwartete Bericht der EU-Kommission über den Stand der Beitrittskandidaten für die Union bietet ein sehr unterschiedliches Bild. Polen, Ungarn und Estland liegen an der Spitze, während Bulgarien und Rumänien noch einen weiten Weg vor sich haben. Die Türkei, mit der noch nicht verhandelt wird, muss sich deutliche Kritik gefallen lassen.

BRÜSSEL, 8. November. Mit dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht über die Lage in den Beitrittsländern bewertet Erweiterungskommissar Günter Verheugen, wie weit sich die Interessenten an einer EU-Mitgliedschaft der Erfüllung der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Union genähert haben. Denn aufgenommen werden kann nur, wer einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat und eine funktionierende Marktwirtschaft vorweisen und dem ökonomischen Wettbewerbsdruck im europäischen Binnenmarkt standhalten kann.

Bei den politischen Kriterien zieht die Kommission für alle zwölf Länder, mit denen verhandelt wird, eine insgesamt positive Bilanz. Die demokratischen Regierungssysteme seien "weiter ausgebaut" worden. Beim Minderheitenschutz gebe es positive Entwicklungen. Besonders erwähnt werden Estland, Lettland und die Slowakei. Allerdings gibt es auch deutliche Kritik. Zwar würden die rechtlichen Regeln der EU relativ schnell übernommen, doch hapere es an deren Umsetzung, weil die Modernisierung der Verwaltungen und der Ausbau der Justiz nur schleppend vorangingen. Rumänien wird erneut ermahnt, das Problem der Waisenhäuser zu lösen. Und alle Länder werden aufgefordert, entschiedener gegen Frauen- und Kinderhandel vorzugehen. Besonders aber liegt den Brüsseler Prüfern im Magen, dass "Korruption, Betrugsdelikte und Wirtschaftskriminalität in den meisten Bewerberländern weit verbreitet" sind.

Aus ökonomischer Sicht ergibt sich eine eindeutige Rangfolge der Länder. Neben Zypern und Malta, die erwartungsgemäß die wirtschaftlichen Kriterien erfüllen, platziert die EU-Kommission Estland, Ungarn und Polen ganz oben. Sie seien funktionierende Marktwirtschaften und dürften bei Beibehaltung ihres Reformtempos "in naher Zukunft" fähig sein, den Wettbewerbsdruck auszuhalten.

In einer zweiten Gruppe finden sich Tschechien und Slowenien. Sie könnten als Marktwirtschaften "angesehen" werden und auch bald das Wettbewerbskriterium erfüllen. Auf dem dritten Platz finden sich Lettland, Litauen und die Slowakei, die erst "mittelfristig" wettbewerbsfähig sein dürften. Bulgarien und Rumänien erfüllen dagegen noch keines der wirtschaftlichen Kriterien. Bei der Türkei kommt die Kommission zu einem ähnlichen Schluss wie im vergangenen Jahr: Ankara erfülle die politischen Kriterien nicht. Man sei weiterhin besorgt "über die unzureichende Achtung der Menschenrechte und der Rechte der Minderheiten sowie über die verfassungsmäßig verankerte Rolle, die die Armee durch den Nationalen Sicherheitsrat im politischen Leben spielt". Aber auch ökonomisch schneidet die Türkei nicht gut ab. Dennoch soll der Türkei eine "Beitrittspartnerschaft" zur schnelleren Heranführung an die Union angeboten werden.

Wenige Stunden vor Veröffentlichung des Berichts hatte der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit davor gewarnt, zu hohe Anforderungen an Ankara zu stellen. "Ich hoffe, das nichts darin stehen wird, was uns befremdet, was für uns unverdaulich ist oder was von uns nicht umgesetzt werden kann", sagte er laut afp in Ankara.

Paris prangert Ankara an

PARIS (dpa). Der französische Senat wertet das blutige Vorgehen der Türkei gegen die Armenier im Jahre 1915 als Genozid. Mit diesem am Mittwoch in Paris verabschiedeten Gesetzesvorschlag wurden die Massaker als Völkermord eingestuft. In der Türkei wurde die Entscheidung scharf kritisiert.