junge Welt 8.11.2000

Schüsse auf den Kopf

USA: Ärzte üben scharfe Kritik am israelischen Vorgehen gegen Palästinenser

Die liberale US-amerikanische Tageszeitung The Boston Globe zitierte am Wochenende aus einem Bericht einer Gruppe amerikanischer Ärzte (Physicians for Human Rights), die in den von Israel besetzten Gebieten die exzessive Gewaltanwendung der Armee unter die Lupe genommen hatte. Nach der systematischen Untersuchung der Schußwunden der jungen Palästinenser kamen die Ärzte zu dem Schluß, daß israelische Soldaten absichtlich auf die Köpfe und Beine der demonstrierenden Jugendlichen zielen, auch in Situationen, die für die Soldaten nicht lebensbedrohlich sind.

Auf diese Tatsache hatte bereits kürzlich Amnesty International hingewiesen und in diesem Zusammenhang unterstrichen, daß es sich dabei um Verstöße gegen die Genfer Konvention handelte, wodurch unter Umständen der Tatbestand von Kriegsverbrechen erfüllt würde. »Das Muster der Verwundungen deutet darauf hin, daß die israelischen Soldaten nicht auf bewaffnete Menschen schießen«, erklärte Dr. Robert Kirschner von der University of Chicago Medical School, denn überall auf der Welt würden die Sicherheitskräfte so ausgebildet, daß sie auf die Brust eines Angreifers zielen. Schließlich sei der Körper das größte Ziel und in einer Gefahrensituation besser zu treffen. »Die Tatsache, daß vielen Palästinensern in den Kopf oder die Beine geschossen wurde, deutet jedoch darauf hin, daß die Soldaten genügend Zeit hatten, genau zu zielen und sie sich somit nicht in einer Situation befanden, in der ihr eigenes Leben bedroht gewesen wäre.«

In der Zwischenzeit sterben jeden Tag mehr palästinensische Kinder. Dabei müssen die Kinder nicht einmal Steine geworfen haben, um erschossen zu werden. Die britische Sunday Times hat in ihrer letzten Ausgabe die Erschießung von zwei palästinensischen Kindern und einem Jugendlichen in dem kleinen Dorf Hizma unweit von Jerusalem untersucht. »Der Tathergang straft all jene Lügen, die behaupten, daß israelische Soldaten nur schießen, wenn ihr eigenes Leben in Gefahr ist«, schreibt die Sunday Times und betont, daß Hizma immer noch unter israelischer Kontrolle ist, und es dort »keine palästinensischen Gunmen« (Gewehrschützen) gibt. Trotzdem haben israelische Soldaten dort innerhalb von zwei Wochen drei palästinensische Teenager erschossen, »davon zwei in kaltblütiger Absicht«. Stunden nachdem die Jugendlichen in Hizma aufgehört hatten, Steine auf eine israelische Patrouille zu werfen, wurden sie urplötzlich von israelischen Soldaten aus dem Hinterhalt beschossen.

Über 180 Tote, mit wenigen Ausnahmen alles Palästinenser, und über 4 000 Verletzte - das ist das Resultat der bereits fünf Wochen dauernden israelischen Repression. Man stelle sich vor, diese Massaker wären von Serben begangen worden. Welch ein Aufschrei in den Medien, welche Entrüstung unserer politischen Menschrechtskrieger. In bezug auf Israel wird jedoch höchstens ganz verhaltene Kritik laut. Auch die kritischen Berichte von Freunden Israels bleiben in den deutschen Medien unerwähnt, wie z. B. der jüngste Bericht von Amnesty International (jW berichtete). Darin hat die Menschenrechtsorganisation die israelische Armee wegen ihrer exzessiven Gewaltanwendung verdächtigt, sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht zu haben.

Aber auch in Israel fragen sich immer mehr Menschen, ob das die richtige Politik ist. »Ist es das wert?« titelte die israelische Tageszeitung Haaretz dieser Tage einen Artikel von Gideon Levy. Der bezweifelt, daß »der Nutzen den hohen Preis« wert ist, den die israelische Gesellschaft dafür bezahlen muß. Nicht nur wegen der immensen Schäden dieser Politik für die Wirtschaft, für den ausbleiben Tourismus und die enormen Kosten fürs Militär, sondern auch wegen der zunehmenden politischen Isolierung Israels in der Welt. Wörtlich schreibt Levy: »Berühmte Besucher, Schauspieler, Wissenschaftler und Sportler bleiben fern, und Premierminister Ehud Barak wird schon mit dem ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic verglichen«.

Rainer Rupp