Frankfurter Rundschau, 08.11.2000

Knapp an der Katastrophe im Sturm vorbei

Schiff mit 877 Flüchtlingen an Bord trieb manövrierunfähig vor der italienischen Küste

Von Roman Arens (Rom)

Die italienische Küstenwache hat im Ionischen Meer ein Schiff aufgebracht, auf dem 877 Flüchtlinge ohne Papiere nach Italien gelangen wollten.

Dieses Mal waren es 877 Flüchtlinge, die nach riskanter Seereise am Dienstagvormittag im Hafen von Otranto wieder festen Boden betraten. Durch beherztes Eingreifen italienischer Seeleute auf der unruhigen Adria war zuvor eine größere Katastrophe vermieden worden.

Die Besatzung der unter ukrainischer Flagge fahrenden "Professor Kolesnikov" hatte das Schiff manövrierunfähig gemacht, um eine Rettungsaktion zu erzwingen. Mit abgestellten Motoren, einer außer Betrieb gesetzten Steuerung und mit eindringendem Wasser trieb das Schiff bei Sturm vor der südöstlichen Spitze Italiens. Mitglieder einer Marine-Fregatte enterten das gefährdete Schiff und brachten eine erste Notration an Wasser, Milch und Brot.

"Wir waren neun Tage unterwegs", berichtete ein kurdischer Arzt, der wegen politischer Verfolgung aus Irak geflohen ist, "Wasser und Lebensmittel aber reichten nur für vier Tage." Die Fahrt von Istanbul aus hat die 654 Männer, 87 Frauen und 136 Kinder sehr mitgenommen; aber niemand von ihnen soll in sehr kritischem Zustand sein. Fünf Personen, die für die Schiffsbesatzung und kommerziellen Fluchthelfer gehalten werden, wurden festgesetzt.

An der apulischen Küste landen Tag für Tag Flüchtlinge in kleinen Gruppen mit hochmotorisierten Schlauchbooten aus Albanien. Die kriminellen Schlepper werfen, um nicht festgenommen zu werden, oft ihre menschliche Fracht kurz vor der Küste rücksichtslos ins Wasser. Regelmäßig kommen größere Schiffe, die nur mit einer oft provozierten Havarie in Häfen gelangen können. Die Zahl der Länder, aus denen die Menschen unter hohen Kosten - im aktuellen Fall war von 2500 bis 6000 Dollar die Rede - fliehen, steigt ständig. Kurden stellen einen hohen Anteil; in jüngster Zeit wächst der der Palästinenser.

"Bei uns sind inzwischen 54 Nationen vertreten", sagte ein Repräsentant des Aufnahmezentrums "Regina Pacis" in San Foca. In diese und andere kirchliche Einrichtungen wie in staatliche Zentren der Region sind auch am Dienstag die Neuankömmlinge gebracht worden. Mit Routine und unter Einsatz vieler freiwilliger Helfer werden die Gestrandeten für eine Weile versorgt, während sie auf staatliche Entscheidungen über ihr Schicksal warten.

"Ich möchte nach Deutschland, wo mein Vater lebt", sagte ein junger Kurde. Seinem Wunsch stehen seit Jahren höhere bürokratische Hürden entgegen. Auch sein Landsmann, der nach England möchte, kann sich nicht mehr einfach heimlich auf den weiteren Weg machen. Seit die europäischen Regeln des Vertrages von Dublin die Verantwortung des ersten Ankunftslandes festgeschrieben haben, passen die italienischen Behörden genau auf die Einwanderer auf.

Davon können sich die bundesdeutschen Grenzschützer überzeugen, die nach einer Ankündigung von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) demnächst im Austausch mit italienischen Kollegen auf die Apenninhalbinsel mit ihren 8000 Kilometer Seegrenzen geschickt werden sollen.