Neue Zürcher Zeitung, 8. November 2000

Ewige Verlobung von Ankara und Brüssel?

Hindernisse auf dem Weg der Türkei in die EU

Die Kommission der Europäischen Union legt am Mittwoch einen Bericht zum Beitritt der Türkei vor. Der Beitrittskandidatin wird ein Zeitplan mit jenen Reformen vorgegeben, die für den Weg der Türkei in die EU ausschlaggebend sind. Ankara spricht aber von einem türkischen Sonderfall und will über diverse Kriterien noch verhandeln.

it. Ankara, 7. November

«Ist die Türkei wirklich bereit, wichtige innen- und aussenpolitische Probleme wie etwa den Zypernkonflikt oder die Minoritätenfrage auf die Art zu lösen, wie dies die Europäische Union auch wünscht?» Diese Frage stellte vor kurzem der ehemalige Aussenminister Mümtaz Soysal in einem Kommentar der Tageszeitung «Hürriyet» und hat seine Landsleute aufgefordert, eine realistische Antwort darauf zu geben. In den nächstenTagen muss die Türkei sich tatsächlich entscheiden, wie wichtig ihr die Annäherung an die EU ist und welchen Preis Ankara dafür zu zahlen bereit ist. Am Mittwoch legt die EU-Kommission in Brüssel zur Beitrittskandidatin Türkei einen sogenannten Bericht zur Partnerschaft vor. Brüssel betrachtet seinen Bericht als einen Zeitplan für politische, soziale und wirtschaftliche Reformen, welche die Türkei auf ihrem Weg in die EU noch verwirklichen müsste.

Zeitplan oder unverbindliche Vorschläge?

Ankara ist diesbezüglich noch anderer Meinung. Der Bericht zur Partnerschaft sei einseitig von der EU-Zentrale ausgearbeitet und für die türkische Regierung deshalb ein wichtiges, aber weitgehend unverbindliches Paket von Reformvorschlägen, sagt der stellvertretende Aussenminister Faruk Lologlu im Gespräch. Die Türkei wolle ihre Antwort auf die EU-Vorschläge bis Ende dieses Jahres in einem sogenannten Nationalen Programm zusammenfassen. Erst die in diesem Programm definierten Reformen seien für die türkische Regierung verbindlich, fügt Lologlu hinzu. Er machte kein Hehl daraus, dass seine Regierung den EU-Bericht als Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen betrachte. Auf den Verhandlungstisch sollte ein Teil jener Prinzipien gelangen, die man hierzulande als Kopenhagener Kriterien oder Abkommen von Helsinki kennt.

Vor bald einem Jahr wurde die Türkei beim Gipfeltreffen von Helsinki zur EU-Beitrittskandidatin ernannt. Der Entscheid löste im Land einen Freudentaumel aus. Die Türkei habe als erstes muslimisches Land den Einzug in den christlichen Klub der Europäer geschafft, hiess es in Kreisen der Koalitionsregierung. Die Regierung war sich sicher, dass die geographisch weitgehend dem Nahen Osten zugeordnete Türkei schon nach ihrer Ernennung zur EU-Kandidatin der vom Republikgründer Kemal Atatürk vorgeschriebenen Westausrichtung einen wesentlichen Schrittnäher gekommen war. Auch die Opposition befürwortete die Beschlüsse von Helsinki vorbehaltlos. Die Bewegung des politischen Islams in der Türkei sucht nach ihrer Entmachtung durch die Armee im Jahr 1997 die Lösung für ihre Probleme nicht in Kontakten zur arabischen Welt, sondern in einer Hinwendung zu Westeuropa. Auch die Kurden hatten gehofft, dass der Anschluss der Türkei an die EU unausweichlichAnkara dazu bewegen wird, die Identität der Kurden anzuerkennen und ihnen Minderheitenrechte zu gewähren. Kurz nach Helsinki schien das Land in der Annäherung an die EU das Allheilmittel für all seine chronischen Probleme zu sehen.

Spannende Ausgangslage

Die Hoffnungen waren nicht ganz unbegründet. Das EU-Gipfeltreffen in Helsinki hatte die Erfüllung der sogenannten Kopenhagener Kriterien als Voraussetzung für den Beitritt der Türkei in die EU erklärt. Dazugezählt wurde eine Reform der türkischen Gesetzgebung, so dass die Meinungs- und Gedankenfreiheit auch in der Türkei garantiert würde. Den Kurden sollten Minderheiten-Rechte eingeräumt werden, darunter auch das Recht auf Ausbildung in ihrer Muttersprache sowie das Recht, kurdische Radio- und Fernsehsendungen zu produzieren und zu empfangen. Der nach wie vor grosse Einfluss der türkischen Armee auf das politische Geschehen des Landes müsste ferner eingeschränkt werden.

Ein Jahr nach Helsinki ist die Euphorie in Ankara verflogen, und es sind Zweifel eingekehrt. Die Türkei sei nicht bereit, im Namen einer unsicheren EU-Mitgliedschaft im Bereich ihrer nationalen Interessen einen Preis zu zahlen, sagte der Vorsitzende der Parlamentskommission für äussere Angelegenheiten und Mentor der türkischen Aussenpolitik, Kamran Inan, im Gespräch. Inan schliesst jede Konzession in der Zypernfrage wie auch in der Kurdenpolitik kategorisch aus. Ähnlich wie Inan will auch die rechtsextreme Nationalistische Aktionspartei (MHP), laut den letzten Umfragen die populärste politische Bewegung der Türkei, keine Konzessionen eingehen. Am MHP-Parteitag vom letzten Sonntag haben die Delegierten erneut die «Überlegenheit der türkischen Rasse» unterstrichen und versprachen, ungeachtet der Brüsseler Abkommen den Kurdenchef Öcalan an den Galgen zu bringen.

Die türkische Armee hat die Annäherung des Lands an die EU als eine geostrategische Priorität bezeichnet und begrüsst. Laut dem stellvertretenden Generalstabschef Büyükanit darf das Land bei diesen Bemühungen aber seinen «unitären und säkularen Charakter» nicht verlieren. Damit signalisierte er, dass eine wesentliche Reform des Artikels 312 des türkischen Strafgesetzbuches, der Volksverhetzung auf Grund von Rasse oder Religion verbietet, nicht vorgesehen ist. Der Artikelbildete während Jahren die rechtliche Basis, Scharen von politischen Opponenten, mehrheitlich Kurden oder Islamisten, hinter Gitter zu bringen. Im Vergleich mit den übrigen 12 Beitrittskandidaten sei die Türkei eben anders, erklärte vor kurzem der für die Annäherung der Türkei und die EU zuständige stellvertretende Regierungschef Mesut Yilmaz. Ist dies ein Eingeständnis, dass Ankara die von der EU geforderten Reformen nicht verwirklichen kann oder will?

Einer der glühendsten Verfechter der von der EU geforderten Reformen ist der langjährige ehemalige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD), Akin Birdal. Anstatt Reformen durchzuführen, versuche Ankara lediglich, kosmetische Änderungen vorzunehmen, sagt er im Gespräch. Es sei durchaus denkbar, dass das Land den Zug nach Europa wieder verpassen werde. Während der EU-Zug zur Abfahrt gepfiffen habe, versuche die Türkei noch mit allenTricks am Schalter den Preis ihres Billetts herunterzufeilschen. Weil Birdal sich in seinen Reden für die Rechte der Kurden eingesetzt hatte, war er von den Staatssicherheitsgerichten der Volksverhetzung beschuldigt worden und musste auf der Basis von Artikel 312 neun Monate lang mit sechs längst in Vergessenheit geratenen kurdischen Abgeordneten im Uluncalar-Gefängnis in Ankara verbringen. Eine Frau könne nicht nur «ein wenig schwanger» sein und ein Land nicht nur ein wenig demokratisch, sagt er verbittert. Ohne eine Generalamnestie für politische Gefangene und ohne Verfassungsänderung sei die Türkei dazu verflucht, halbdemokratisch zu bleiben.

Dauernder Sonderfall

In Kreisen der Kurden breitet sich auch Pessimismus aus. Ein junger kurdischer Akademikerglaubt, dass der Zug nach Europa längst abgefahren sei. Demnach wünschten weder die Türkeieinen Anschluss an die EU noch die EU die Vollmitgliedschaft der Türkei. Die Beziehung zwischen der Türkei und Europa sei seit Jahrhunderten ambivalent gewesen, sagt er im Gespräch. Verhandlungen über den angeblichen kulturellen Sonderfall Türkei dienten lediglich dazu, diese ambivalente Beziehung weder zu einem Bruch noch zu einem Heirat zu führen, sondern diese ewige, aber lieblose Verlobung noch etwas zu verlängern.