Nürnberger Zeitung, 7.11.2000

Die Türkei ist für den angestrebten Beitritt zur EU noch lange nicht reif

Mächtige Hürden auf dem Weg nach Europa

ISTANBUL (dpa). - In der Türkei steigt die Spannung: Seit Wochen wird über den Inhalt des so genannten Fortschrittsberichts spekuliert, den die EU-Kommission an diesem Mittwoch in Brüssel zum Beitrittskandidaten Türkei vorlegt. Generell wird erwartet, dass in dem Dokument die Abschaffung der Todesstrafe, Verbesserungen bei den Menschenrechten und der Meinungsfreiheit und eine Einschränkung des Einflusses des mächtigen Militärs auf die Politik als unabdingbare Voraussetzungen für den EU-Beitritt gefordert werden. Dies sind absehbar noch mächtige Hindernisse, die Ministerpräsident Bülent Ecevit aber spätestens in drei Jahren beiseite geräumt haben will. Dazu gehört besonders auch die Todesstrafe, deren Abschaffung vor allem der zum Tode verurteilte kurdische Separatistenführer Abdullah Öcalan entgegensteht. Nach dem blutigen Krieg in den Kurdengebieten, bei dem nach offiziellen Angaben seit 1984 mehr als 32 000 Menschen getötet worden sind, wollen viele Türken Öcalan am Galgen sehen. "Die Todesstrafe ist ein sensibles Thema, aber man wird eine Lösung finden", sagte Ecevit, der als Gegner der Todesstrafe bekannt ist, kürzlich in einem Interview mit der Zeitung "Yeni Binyil".

Verfrühtes Lob aus Brüssel

Zu den Menschenrechten hat die Türkei gern das Lob aus Brüssel für die Vorlage eines Folterberichts einer Parlamentskommission gehört. Doch ihre Vorsitzende Sema Piskinsüt, die sich bei Polizeistationen im ganzen Land unbeliebt gemacht hatte, wurde vor kurzem abgelöst. Nun leitet ein Politiker der rechtsextremen Regierungspartei der Nationalistischen Bewegung (MHP) die Kommission. Beobachter bezweifeln, dass das Gremium unter dieser Leitung noch Folterwerkzeuge entdecken und dunkle Machenschaften der Polizei ans Licht bringen wird.

Ein schlechtes Licht auf die türkische Demokratie hat auch ein kürzlich veröffentlichter Bericht über das Militär geworfen. Dabei wurde eine geplante Rufmordkampagne des Militärs aus dem Jahr 1998 gegen Menschenrechtler wie Akin Birdal, Politiker der pro-kurdischen Demokratie-Partei des Volkes (HADEP) und bekannte Journalisten wie Mehmet Ali Birand bekannt. Dies zeigt, wie groß der Einfluss der Generäle auf die Politik noch immer ist. Auch Festnahmen kurdischer Politiker sorgen immer wieder für Kritik: Erst am Wochenende wurden rund 50 Lokalpolitiker der HADEP - gegen die Partei läuft ein Verbotsverfahren - festgenommen. Doch nicht nur die HADEP, auch die Hauptopposition, die islamistische Tugend-Partei (FP), könnte in Kürze verboten werden. Auch dies wäre sicherlich kein gutes Signal, um die "Eintrittskarte für Europa", so die Zeitung "Sabah", zu bekommen. Andererseits würde eine mächtige islamistische Bewegung die Türkei den Europäern auch nicht gerade sympathischer machen. Claudia Steiner