Neue Zürcher Zeitung, 4. November 2000

Ein Fahrplan für die Erweiterungs-Regatta

Vor der Zeugnisverteilung durch die EU-Kommission

Bei den Verhandlungen der EU mit zwölf Beitrittskandidaten hat sich das Feld etwas auseinander gezogen, wobei in den meisten Fällen wirtschaftliche Fortschritte Hand in Hand mit Verhandlungserfolg gehen - und umgekehrt. Die EU-Kommission will am 8. November zusammen mit den «Fortschrittsberichten» über die Kandidaten Vorschläge für die weitere Verhandlungsstrategie unterbreiten.

Ht. Brüssel, 2. November

Am nächsten Mittwoch findet für die Beitrittskandidaten der Europäischen Union (EU) erneutdie jährliche Verteilung der Zeugnisse statt: In sogenannten Fortschrittsberichten wird die EU- Kommission über das - an den «Kopenhagen- Kriterien» von 1993 gemessene - Vorankommen der einzelnen Staaten berichten. Die wichtigste Änderung seit dem letzten Herbst besteht darin, dass die EU im Februar mit sechs weiteren Staaten Beitrittsverhandlungen aufgenommen hat. Seither sprechen die 15 Mitgliedstaaten mit 10 mittel- und osteuropäischen Reformländern sowie mit Malta und Zypern, was trotz der geringen Grösse der meisten Kandidaten jede bisherige Erweiterung in den Schatten stellt. Die Türkei als13. Kandidat hingegen erfüllt die Voraussetzungen für einen Verhandlungsbeginn noch nicht, während die Staaten im westlichen Balkan erst als «potenzielle» Bewerber gelten.

Wirtschafts- und andere Ranglisten

Die anderen zwölf Länder hingegen, deren Unterhändler sich derzeit durch den in 31 Kapitel aufgeteilten gemeinsamen Besitzstand (Acquis communautaire) der EU kämpfen, nähern sich allmählich der Substanz. Getreu dem sogenannten Regatta-Modell, in dem jeder nach seinenVerdiensten vorankommt, hat sich das Feld inzwischen etwas auseinander gezogen. Nimmt mandie Zahl der vorläufig abgeschlossenen, also ausgehandelten Kapitel als Massstab, so liegt Zypern mit 16 abgeschlossenen Themenbereichen an der Spitze (vgl. Kasten). Es folgen - in dieser Reihenfolge - Estland, Tschechien und Ungarn, Slowenien und Polen. Malta und die Slowakei rangieren nur wenig hinter Polen, obwohl sie die Gespräche erst im Februar und damit rund zweiJahre nach den erstgenannten sechs Staaten aufgenommen haben. Der oft beschworene Aufholprozess scheint also in der Praxis nicht unmöglich zu sein. Das Schlusslicht tragen zurzeit Rumänien und Bulgarien.

Zwar darf die Aussagekraft des «Kapitelzählens» nicht überschätzt werden, zumal noch kein einziges Land ein besonders heikles Dossier wie Landwirtschaft, Personenfreizügigkeit, Regionalpolitik oder Umwelt abschliessen konnte. Dennoch ergibt die Verhandlungs-Rangliste ein ähnliches Bild wie ein Blick auf wirtschaftliche Indikatoren. Letztere stehen derzeit zusammen mit der Erfüllung des «Acquis» im Vordergrund, da alle Kandidaten die politischen Kriterien bereits mehr oder weniger erfüllen. Berücksichtigt man nur das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf als Massstab, liegen erst Zypern und Slowenien bereits auf gleichem Stand wie die ärmsten EU-Mitglieder.

Leicht modifiziert wird das Bild bei einem breiteren Ansatz: Die Forschungsabteilung der Deutschen Bank hat kürzlich die wirtschaftliche Konvergenz der Kandidaten zur EU zu quantifizieren versucht, indem sie aus 16 Variablen vom Pro- Kopf-BIP über Konjunktur- bis zu Strukturdaten einen «Konvergenz-Indikator» errechnet hat.* An der Spitze dieser Rangliste, die natürlich ebenfalls mit Vorsicht zu interpretieren ist, steht Slowenien - Zypern und Malta wurden nicht erfasst -vor Ungarn und Tschechien; Polen und die Slowakei sind im Mittelfeld, während Litauen undRumänien klar zurückliegen. Auf der Basis ähnlicher Kriterien wird auch die EU-Kommission inden Fortschrittsberichten erneut die beiden Fragen zum wirtschaftlichen Teil der Kopenhagen- Kriterien beurteilen: Welche Kandidaten sind funktionierende Marktwirtschaften und welche werden dem Wettbewerbsdruck nach einem EU- Beitritt standhalten? Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat kürzlich in Warschau bereits erklärt, es seien mittlerweile «fast alle» Kandidaten Marktwirtschaften, während es beim viel wichtigeren Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit klare Spitzenreiter, darunter Polen, gebe.

Wie geht es weiter?

Weiter kündigte Verheugen an, die Kommission werde den Mitgliedstaaten zusammen mit den Fortschrittsberichten eine Strategie für die weiteren Verhandlungen vorschlagen. Diese wird voraussichtlich zweierlei zum Inhalt haben: Zum einen werden Kriterien für einen generellen Raster zur Beurteilung von Forderungen nach Übergangsregeln definiert. Zwar müssen die Kandidaten den «Acquis» vollständig übernehmen, doch können beide Seiten hierfür Übergangsfristen und -lösungen verlangen, deren genaue Festlegung einen Kernbestandteil der Beitrittsverhandlungen bildet. Gemessen an Kriterien wie Binnenmarkt- Relevanz, Wettbewerbsverzerrung, Gesundheits- oder Umweltgefährdung, soll künftig beurteilt werden, ob eine konkrete Forderung technisch problemlos, Gegenstand schwieriger Abwägungen oder inakzeptabel ist. Letztlich geht es dabeium eine Gratwanderung zwischen zwei Extrempositionen: Wer die Erweiterung eher aussenpolitisch wertegeleitet als Einigung Europas und Garant für Frieden und Stabilität begreift, wird die Details des «Acquis» für zweitrangig halten. Wer hingegen in eher wirtschaftlicher Sicht den Binnenmarkt in den Vordergrund stellt, für den ist die korrekte Anwendung sämtlicher Regeln zentral - und er kann angesichts des gewaltigen Umfangs des «Acquis» mit ein bisschen Böswilligkeit jede Erweiterung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögern.

Den zweiten Teil des Strategie-Vorschlags dürfte eine Art Fahrplan bilden. Laut Verheugen bleibt das 1999 formulierte Ziel unverändert: «Ein Verhandlungsabschluss im Jahr 2002 mit den ersten Ländern ist möglich.» Nun will die Kommission darlegen, wie zur Erreichung dieses Ziels die Verhandlungen organisiert und in welchen Etappen welche Kapitel verhandelt werden müssten.

Weitere Daten oder konkrete Hinweise auf einzelne Länder oder Ländergruppen wird das Kommissionsdokument hingegen voraussichtlich nicht enthalten. Rechnet man den Ratifikationsprozess hinzu, ergeben sich erste Beitritte frühestens 2003. Manche EU-Diplomaten halten dies für zu optimistisch; einige Experten tendieren zu einem «Big Bang» mit bis zu zehn Beitritten (aber ohne Bulgarien und Rumänien) im Jahr 2005 oder etwas später.

Die Vertreter der Mitgliedstaaten begründen ihre Zurückhaltung zwar meist mit Hinweisen auf den Anpassungsbedarf der Kandidaten, doch in ihren Hinterköpfen hegen sie auch andere Gedanken: Neben der Verteidigung nationaler Interessen ist es unter anderem die Scheu vor weiteren Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik, so nötig diese selbst ohne Erweiterung wären. Eine Rolle dürfte zudem das Schielen auf die eigenen Wähler spielen: Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage würde bei der EU-Bevölkerung nur ein Beitritt von Malta, Polen, Tschechien, Ungarn und Zypern mehr Zustimmung als Ablehnung ernten. Allerdings antwortete jeweils rund ein Viertel der Befragten mit «weiss nicht», so dass Raum für Überzeugungsarbeit bleibt. Ein Trost bleibt den Kandidaten: Schweden, das am 1. Januar und damit in einer wichtigen Verhandlungsphase die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, war in dieser Umfrage mit einer durchschnittlichen Zustimmung durch 61% der Bevölkerung der «erweiterungsfreundlichste» Mitgliedstaat, während der derzeitige Vorsitzende, Frankreich, mit 26% am entgegengesetzten Ende dieser Rangliste zu finden ist . . .

* Deutsche Bank Research, Monitor EU-Erweiterung, Nr. 1, September 2000.