Berliner Zeitung, 4. November 2000

Amnesty beklagt Folter in Europa

In 25 Ländern werden Menschen misshandelt

BONN/BERLIN, 3. November. 50 Jahre nach Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention werden nach Angaben von Amnesty international weiter Menschen in Europa gefoltert und misshandelt. In mindestens 25 Ländern dauerten Folter und brutale Übergriffe an, und die Täter blieben in der Regel straffrei, heißt es in einem am Freitag in Bonn verbreiteten Bericht der Menschenrechtsorganisation. 20 dieser Staaten seien Mitglieder des Europarats und somit auf die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Konvention verpflichtet.

Opfer von Folter und Misshandlungen werden laut Amnesty vor allem Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, Einwanderer, Flüchtlinge, Asylbewerber, Kinder, Kriminelle und Verdächtige. "Diskriminierung erleichtert Folter", teilte die Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, Barbara Lochbihler, in Berlin mit. Sie rief zu "besonderer Wachsamkeit" bei Abschiebungen auf. Abgelehnte Asylbewerber seien sehr schutzbedürftig, weil ihnen weniger Rechte zuerkannt würden. Auch die deutsche Polizei müsse an ihrem Menschenrechtsbewusststein arbeiten. Lochbihler verwies auf den Fall eines Sudanesen, der 1998 bei der Abschiebung aus Deutschland zu Tode kam. Bei Misshandlungen gebe es in Deutschland "Fälle in der Grauzone".

Täter bleiben straflos

Der Amnesty-Bericht vermisst vielerorts in Europa den politischen Willen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. In Deutschland sei die Dauer der Verfahren nicht akzeptabel. Als Beispiel wird der Fall eines deutschen Staatsbürgers türkischer Herkunft genannt, der 1995 von Polizisten in Frankfurt am Main krankenhausreif geschlagen wurde. Erst im Februar 1999 wurden zwei Beamte für die Tat verurteilt.

In dem Bericht werden unter anderem Vergewaltigungen und Folterungen in geheimen russischen "Filtrationslagern" in Tschetschenien dokumentiert. Aufgeführt ist auch die Misshandlung eines afghanischen Asylbewerbers in einem Abschiebelager in Ungarn und die Misshandlung mit Todesfolge an einem Roma in Portugal.

In der Türkei ist dem Bericht zufolge Folter an der Tagesordnung. Nach offiziellen Angaben hätten in den vergangenen vier Jahren 577 Anklagen gegen Sicherheitskräfte nur in zehn Fällen zu Schuldsprüchen geführt. Als Beispiel nannte Lochbihler den Fall der jungen Kurdin Zeynep Avci, die 1996 von der Polizei in Izmir wiederholt mit Elektroschocks gefoltert und sexuell missbraucht wurde. Trotz einer formellen Beschwerde seien die Folterer bis heute nicht vor Gericht gestellt worden. Auch aus Kroatien, Georgien, Ungarn, Mazedonien, Rumänien, der Ukraine, Österreich, Italien, Spanien, der Schweiz und Schweden führt Amnesty Fälle von Misshandlungen an.

Gleichwohl würdigte die deutsche Amnesty-Generalsekretärin die Menschenrechtskonvention als wichtige "Erfolgsgeschichte". Das Jubiläum müsse aber für die europäischen Staaten Anlass sein, Folter und Misshandlungen wirksamer vorzubeugen und die Täter tatsächlich zu bestrafen. (epd)