junge Welt, 03.11.2000

»Auf Kinder schießt man nicht«

Amnesty International: Israel könnte sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben

Mit den Worten »Wenn ein Kind Steine wirft und sonst keine Gefahr darstellt, dann erschießt man es nicht«, wurde am Mittwoch der Forschungsdirektor von Amnesty International (ai), Caudio Cordone, im britischen Fernsehsender BBC zitiert. Cordone stand noch ganz unter dem Eindruck, den er bei einer Beobachtungsreise im besetzten Palästina mit einer ai- Delegation gewonnen hatte. Zurück in London, verurteilte die Menschenrechtsorganisation das militärische Vorgehen der Israelis in den besetzten Gebieten aufs schärfste und unterstrich, daß es sich dabei um Kriegsverbrechen handeln könnte.

In den fünf Wochen der brutalen und rücksichtslosen Repression durch das israelische Militär sind 160 Menschen getötet worden, fast alle sind Palästinenser, viele davon Kinder. Nach Angaben von ai würden die Todesschüsse der Soldaten vom Militärkommando nicht einmal mehr registriert und untersucht. Demna c h scheinen die besetzten Gebiete von Israel zu einer Art Freien-Feuer-Zone gemacht worden zu sein, wo beliebig geschossen und getötet werden darf, ohne daß die Soldaten befürchten müssen, f ür exzessive Handlungen später zur Verantwortung gezogen zu werden. »Hier liegt ein Muster von schwersten Menschenrechtsverletzungen vor, die sich als Kriegsverbrechen heraus stellen könnten«, erklärte Claudio Cordone in London. »Es handelt sich um exzessive Gewaltanwendung, die zu Tötungen führt, die nicht stattfinden dürften.«

Amnesty kritisierte auch die Palästinenser, weil sie zuließen, daß auf jüdische Siedlungen gefeuert wird. Außerdem hätten sie eine Verpflichtung, die Kinder daran zu hindern, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die Londoner Menschenrechtler warfen darüber hinaus der palästinensischen Seite vor, zu langsam bei der Aufklärung der Ermordung der beiden israelischen Reservisten vorzugehen, die letzten Monat in Ramallah von einer wütenden Menge gelyncht worden waren. Die Tatsache, daß die israelische Armee jedoch nicht einmal mehr Todesschüsse ihrer Soldaten untersucht, dürfte schwerer wiegen. So wirft Amnesty International der israelischen Armee denn auch vor, nicht nur gegen eigene Gesetze zu verstoßen, sondern auch die Genfer Konvention zu brechen. Demnach darf tödliche Gewalt nämlich nur angewendet werden, wenn eine unmittelbare Bedrohung von Leben abgewendet werden muß.

Wolf Reinhardt

*** Protest-Mahnwache »Ende der Besatzung - für einen souveränen Staat Palästina«. Jeden Freitag von 17 bis 18 Uhr auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Deutsch-Palästinensische Gesellschaft, Regionalgruppe Berlin