junge Welt, 03.11.2000

Interview

Regierung im Schulterschluß mit der Rüstungsindustrie?

jW fragte Franz Nadler, Sprecher von Connection e.V., Offenbach

(Connection e. V. ist eine international für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Kriegsgebieten arbeitende Organisation, Nadler ist einer der Redner am Samstag, dem 4. November, bei der Demo in Geisenheim gegen die Lieferung einer Munitionsfabrik an die Türkei)

F: Wie bewerten Sie die Entscheidung, daß die hessische Firma Fritz Werner, mit dem Segen der SPD-Grünen-Bundesregierung, eine Munitionsfabrik an die Türkei liefern darf?

Daß SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bereich Militär dermaßen zulegen, davon mußte man nicht unbedingt ausgehen. Die forcierte Beteiligung an der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO, die faktische Besetzung des Kosovo, der Aufbau von Interventionstruppen und nicht zuletzt der Anstieg bei den Rüstungsexporten - das hätte die CDU so glatt nicht hinbekommen. Daß die ehemals militär- und gewaltkritische Partei Bündnis 90/Die Grünen beim Punkt Lieferung einer Fabrik zur Herstellung von Gewehr- und Pistolenmunition an die Türkei im Sicherheitsrat sich der Stimme enthält - Joschka Fischer: »Ich sage dazu nichts.« - ist da nur das I-Tüpfelchen beim Schulterschluß mit der Rüstungsindustrie.

Wenn nun gesagt wird, man müsse sie liefern, weil die Vorgängerregierung auf eine Voranfrage positiv geantwortet habe, dann sieht man daran, daß jedes Argument, und sei es noch so absurd, ausgegraben wird, um vom eigenen Willen und der eigenen Verantwortlichkeit abzulenken.

F: Eine Losung in dem Aufruf zu einer Kundgebung, die am 4. November am Sitz der Firma Fritz Werner in Geisenheim stattfinden wird, lautet »Keine Abschiebungen in den Folterstaat Türkei«. Welche aktuellen Informationen aus der Türkei haben Sie?

Der in Kurdistan tobende Krieg hat an Intensität erheblich nachgelassen, allerdings ist das ausschließlich darauf zurückzuführen, daß weite Teile der PKK dem Aufruf ihres Vorsitzenden Öcalan folgten und die Waffen niederlegten. Für das türkische Militär geht dagegen der Krieg unverändert weiter. Der Ausnahmezustand bleibt ebenso bestehen wie die Unterdrückung der Kurden und anderer Oppositioneller, die jetzt umfassender erfolgen kann. In der Türkei werden nach wie vor Leute vertrieben, z. B. aktuell für den Bau des Iliscu- Staudammes in Kurdistan; es werden Oppositionelle inhaftiert, ja, auch gefoltert. Aktivistinnen und Aktivisten für Demokratie, Menschenrechte, gegen den Krieg in Kurdistan und die Besetzung Nordzyperns, für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung etc. werden mit einer Vielzahl von Anklagen überhäuft und oft auch zu horrenden Strafen verurteilt.

Da insbesondere politische Aktivisten, die z. B. aus Deutschland abgeschoben werden, bei der Einreise regelmäßig verhört und gefoltert werden, ist ein Stopp der Abschiebungen in den Folterstaat Türkei unerläßlich.

F: Im Moment scheint die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft nur sehr wenig Protest hervorzurufen - erwarten Sie hier in naher Zukunft wieder mehr Aufmerksamkeit einer kritischen Öffentlichkeit? Wie steht es um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine stärkere Thematisierung solcher Waffengeschäfte?

Die Munition, die in der Türkei hergestellt wird, dient zweifelsohne dem staatlichen Gewalt- und Unterdrückungsapparat. Die Verantwortung für Krieg, Unterdrückung, Verletzung der Menschenrechte tragen damit auch die Bundesregierung und die bei Fritz Werner bzw. bei MAN Beschäftigten. Daß der Rüstungs- und Kriegskurs der hiesigen Regierung bislang so glatt verlief, hat vor allem eine Ursache: Es fehlt der Protest, der Druck auf der Straße. Ich bin mir aber sicher, daß immer weniger Menschen sich von Gesülze wie »Bombardierungen für die Menschenrechte« oder »Wir sind lediglich das Ausführungsorgan der Kohl- Regierung« blenden lassen. Diese Regierung verdient keine Loyalität, sondern unseren geharnischten Protest.

Interview: Thomas Klein, Wiesbaden

*** Demo 4. November, 11.30 Uhr, Geisenheim, Bahnhof (etwa 20 Kilometer westlich von Wiesbaden)