Frankfurter Rundschau 31.10.2000

Zu Brutalität fällt Palästinensern nur Israels Armee ein

Ärzte beklagen den Einsatz von Heckenschützen / Intellektuelle debattieren den Sinn des militanten Widerstands

Von Inge Günther (Jerusalem)

Die individuellen Schicksale verbirgt die Opferstatistik. Etwa den besonders tragischen Fall zweier palästinensischer Zwillinge, gerade zwanzig Jahre jung, die am Sonntag in der Westbank-Stadt Dschenin bei Zusammenstößen mit israelischen Soldaten ums Leben kamen.

Eines aber verdeutlichen die während der einmonatigen Unruhen zusammengetragenen Daten nach Überzeugung von Mustafa Barghouti, Arzt und zugleich Präsident der Union palästinensischer medizinischer Hilfsdienste: "Sie zeigen, was es heißt, wenn Israels Armee von ,akkuratem Schusswaffengebrauch' spricht". Von den statistisch erfassten 144 getöteten Palästinensern - in dieser Zahl sind auch zwölf arabische Israelis berücksichtigt - kamen demnach 48 Prozent durch Kopf- oder Nackenschuss um. Rund weitere 50 Prozent starben in Folge von Treffern in den Oberkörper. Auch bei den etwa 5000 Verwundeten überwiegen Barghoutis Angaben zufolge zu mehr als zwei Drittel Verletzungen im Brust- und Schulterbereich. Für den Arzt aus Ramallah ein klares Indiz, dass "die israelischen Soldaten mit Tötungsabsicht schießen". Vor allem der Einsatz von Heckenschützen sei mörderisch.

Ein Vorwurf, den die israelische Armeeführung weit von sich weist. Nach ihrer Version werden Scharfschützen lediglich eingesetzt, um gezielt die Antreiber und bewaffneten Fatah-Kämpfer aus dem Verkehr zu ziehen. Zudem griffen die Streitkräfte vornehmlich zu ihren Waffen, um sich selbst oder jüdische Siedler zu verteidigen. "Wir bewegen uns nicht zu ihren Positionen", versuchte kürzlich ein militärischer Berater im Büro des Premiers die Sache zurecht zu rücken, "die Palästinenser kommen zu unseren". Einwände, die Barghouti nicht gelten lässt. Inzwischen tue die Armee schon so, als ob "die Besatzung eine Phantasie wäre". Die Brennpunkte der Straßenschlachten, ob in Hebron, Ramallah oder Bethlehem, befänden sich in unmittelbarer Nähe oder sogar innerhalb der autonomen Palästinenser-Gebiete.

Israels Generalstabschef, Schaul Mofas, denkt längst über neue Taktiken nach. Für seine Absicht, "vom Muster der reinen Reaktion zur Initiative" zu gelangen, soll er nach einem Bericht der Zeitung Yediot Achronoth das Einverständnis von Premier und Verteidigungsminister Ehud Barak eingeholt haben. Von jetzt an müsse mit Überraschungsschlägen der Armee gerechnet werden, etwa mit Hinterhalten, um der bewaffneten Fatah-Miliz Tansim aufzulauern. Da man inzwischen mit palästinensischer "Guerillataktik" konfrontiert sei, betont auch Vizeverteidigungsminister Ephraim Sneh, werde Israel künftig "kontern".

Barghouti, der auch zum Führungsgremium der ex-kommunistischen Volkspartei gehört, spricht dagegen vom israelischen Versuch der "Kriegsführung", ohne dass von einem Krieg gesprochen werden könne, da auf palästinensischer Seite keine Armee existiere. Mit dem ständigen Verweis auf die Tansim wolle Israel nur die eigene Gewalt rechtfertigen.

Nicht zuletzt deshalb begann unter palästinensischen Intellektuellen eine Diskussion über den Sinn des Widerstands. Saleh Abdel Jawad, Politikwissenschaftler der Birzeit-Universität, plädiert dafür, sich auf gewaltfreie Proteste zu beschränken: "Die Teilnahme bewaffneter Elemente an Massendemonstrationen sowie gegen Soldaten und Siedler gerichtete Schießereien müssen sofort aufhören." Derartige Angriffe seien "nutzlos" und dienten den Israelis als Vorlage, den Konflikt auf eine militärische Ebene zu heben, "auf der sie unschlagbar sind". Die Diskrepanz ergibt sich beim Blick auf die verwendete Munition. Die Tansim feuern mit einfachen Gewehrkugeln, die Soldaten dagegen mit einem Arsenal modernster Waffen. Vor allem ihre fast zehn Zentimeter langen Hochgeschwindigkeitsgeschosse verursachen nach Barghoutis Worten "schwerste multiple Verletzungen". Als Beispiel führt er den Fall eines Jungen an, dessen Knie völlig zertrümmert wurde. Aber auch Gummi ummantelte Stahlkugeln, die aus kurzer Distanz zu schlimmsten Schädelbrüchen führen können, bezeichnet der Arzt als "Albtraum jedes Hirnchirurgen" wegen der verheerenden Blutungsfolgen.