Süddeutsche Zeitung, 30.10.2000

Die Logik der Knalltüten

Nicht die Einwanderer, sondern die Christdemokraten brauchen eine Leitkultur

/ Von Heribert Prantl

Mit Friedrich Merz und der Leitkultur verhält es sich so wie mit dem kleinen Jungen und der Semmeltüte: Wenn nichts mehr drin ist, bläst er sie auf, haut kräftig drauf - und freut sich diebisch, wenn es laut knallt und die Leute erschrecken. Dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU gefällt dieses Spiel so gut, dass er gar nicht mehr damit aufhören kann; in besonders konservativen Kreisen freut man sich darüber, dass von der CDU endlich wieder was zu hören ist, man lobt Merz wie für eine Heldentat. Und es beginnt auf einmal in der ganzen Union und weit darüber hinaus das große Semmeltütenspiel: Alle wollen in leere Tüten pusten und halten das für politische Konzeptkunst. Das ist die launige Betrachtungsweise dessen, was derzeit in der CDU passiert.

Die Wirklichkeit ist nicht ganz so lustig: Es geht nicht nur darum, dass der CDU, die nach der Kohl-Krise wieder Tritt fassen muss, sogar eine so alberne Knallerei als Marschmusik willkommen ist. Es geht darum, dass mit den Problemen der Integration auf gefährliche Weise umgegangen wird. Der Begriff der Leitkultur ist so falsch, dass man ihn nicht - wie die CDU-Vorsitzende Angela Merkel dies angekündigt hat - mit richtigen Inhalten füllen kann. Er ist und bleibt falsch, was immer man da hineinfüllt.

Leitkultur ist ein Totschlags-Wort: Wer von Leitkultur redet, will nicht integrieren, sondern provozieren. Leitkultur ist ein Wort der Überhebung, der Überheblichkeit, der Null-Toleranz. Wer nur darlegen will, dass Einwanderer in Deutschland deutsch lernen und der Werteordnung des Grundgesetzes zustimmen müssen - der braucht für solche Selbstverständlichkeiten das Wort Leitkultur nicht. Wenn Angela Merkel also die von Friedrich Merz losgetretene Diskussion erträglich, verträglich und fruchtbar machen wollte, dann müsste sie die Floskel von der "freiheitlichen deutschen Leitkultur" verwerfen - und an dessen Stelle eigene Leitlinien für eine Integrationspolitik setzen. Es ist zu fürchten, das Angela Merkel dies nicht kann, weil sie keine solchen Leitlinien hat. Sie hat nur das Gefühl, eine Leitkultur-CDU nicht zu wollen. Und sie weiß, dass es bei dem Streit um Leitkultur letztendlich um die Führungsposition in der CDU geht.

Sie meint, sie könne diesen Kampf durch Zurückhaltung in der Öffentlichkeit und durch Taktieren im Hintergrund gewinnen. Statt sich klar zu äußern, benimmt sie sich gegenüber dem Fraktionsvorsitzenden Merz wie das Mädchen, das an den Blütenblättern der Margerite zupft, um herauszubekommen, was Sache ist: Einmal äußert sie sich eher für Merz, einmal eher dagegen, dann wieder gar nicht. Sie meint, auf die Art und Weise sorge sie für den Ausgleich in der Partei. Das ist eine Ausrede. Wer selbst keine Position hat, kann auch keine Positionen ausgleichen. Nicht die Einwanderer, sondern die Parteioberen brauchen eine einheitliche Leitkultur. Angela Merkel verhält sich längst noch nicht so, wie man sich verhalten muss, wenn man Kanzler-Kandidatin der Union werden will.