Frankfurter Rundschau, 30.10.2000

Koalition strebt Zuwanderungsgesetz für 2001 an

Unionspolitiker gehen Bundespräsident Rau scharf an / Koch legt Süssmuth Rücktritt von Kommissionsvorsitz nahe

Die rot-grüne Koalition strebt eine gesetzliche Regelung zur Einwanderungspolitik noch für das kommende Jahr an, um das Thema aus dem Bundestagswahlkampf 2002 zu halten. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) forderte seine Parteikollegin Rita Süssmuth auf, den Vorsitz der Kommission abzugeben, die Vorschläge zur Einwanderung machen soll.

BERLIN, 29. Oktober (rtr/dpa/afp). SPD-Generalsekretär Franz Müntefering sagte dem Tagesspiegel, die von der Regierung eingesetzte Kommission werde bis Mitte nächsten Jahres einen Bericht vorlegen, auf dessen Basis entschieden werden müsse, ob es Änderungen der gesetzlichen Regelungen geben werde. "2001 wäre ausreichend Zeit für Entscheidungen", sagte Müntefering. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, schloss sogar einen raschen Kompromiss mit der Union nicht aus.

Führende CDU-Politiker behielten sich unterdessen vor, die Zuwanderung zum Thema des nächsten Bundestagswahlkampfes zu machen. Parteichefin Angela Merkel hielt das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft für gescheitert. Merkel sagte der Zeitung Welt am Sonntag, der vom Fraktionsvorsitzenden der Union im Bundestag, Friedrich Merz, eingebrachte umstrittene Begriff einer "deutschen Leitkultur" mache deutlich, dass eine multikulturelle Gesellschaft nicht funktionieren könne. Merkel kündigte an, den Begriff künftig inhaltlich füllen zu wollen.

CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer griff in diesem Zusammenhang Bundespräsident Johannes Rau an, der sich kritisch zu Merz geäußert hatte. In dem Magazin Focus warf Meyer dem Staatsoberhaupt vor, sich zu stark in die Debatte um die Zuwanderungspolitik eingeschaltet zu haben: "Der Bundespräsident wäre gut beraten, sich nicht in die parteipolitische Tagesdiskussion einzumischen." Auch der bayerische Regierungschef Edmund Stoiber attackierte den Bundespräsidenten. Rau sollte sich ein bisschen sachkundiger machen, sagte der CSU-Politiker im ZDF. Es müsse "einen Wertekanon" und keine multikulturelle Gesellschaft geben. Rau hatte gewarnt, die Deutschen sollten nicht versuchen, mit einer Leitkultur die Nummer eins in Europa zu spielen.

Auch der hessische Ministerpräsident Koch verteidigte in dem Boulevardblatt Bild vehement den Begriff "deutsche Leitkultur". Koch sagte: "Ausländer, die in unserem Land leben wollen, haben unsere Gepflogenheiten mindestens zu respektieren, müssen sich in unsere Gesellschaft eingliedern. Integration kann es nicht auf der Basis einer gleichmäßigen Teilung von Traditionen geben." Dies habe Merz mit dem Begriff "Leitkultur" umschrieben.

Der Wiesbadener Regierungschef forderte die ehemalige Bundestagspräsidentin Süssmuth auf, den Vorsitz der Einwanderungs-Kommission der Bundesregierung niederzulegen. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, "dass sich eine CDU-Politikerin instrumentalisieren lässt". Die Berufung von Süssmuth hatte zuvor bereits zu heftigen Reaktionen innerhalb der Union geführt.

Auch Koch sprach sich dafür aus, die Ausländerpolitik gegebenenfalls zu einem Thema des Bundestagswahlkampfes 2002 zu machen: Wenn die Bundesregierung kein vernünftiges Konzept für ein Gesetz vorlege, das Zuwanderung begrenzt und steuert, "werden wir unsere Vorstellungen zur Abstimmung stellen".

Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) trat dem entgegen. Er erinnerte an die "Kinder-statt-Inder"-Kampagne. "Wer auf diese Art Wählerstimmen gewinnen will, der spielt nicht nur mit dem Feuer, der spielt mit dem Leben von Menschen", sagte er dem Spiegel.