junge Welt, 30.10.2000

Volksaufstand hält an

Erstmals israelische Bomben auf Jericho.
Palästinenser wollen Intifada fortsetzen Bei der Beerdigung der vier Toten vom Vortag wurden am Samstag im Gazastreifen erneut mindestens sechs Palästinenser durch Schüsse israelischer Soldaten verletzt. Israelische Hubschrauber und Panzer bombardierten die palästinensische Ortschaft Beit Jalas gegenüber der jüdischen Siedlung Gilo am Südrand Ostjerusalems. Darüber hinaus wurden erstmalig Luftangriffe auf die palästinensische Autonomiestadt Jericho gemeldet.

Die Palästinenser sind fest entschlossen, den Aufstand in den von Israel besetzten Gebieten weiterzuführen. Ihr Präsident Yassir Arafat scheint jedoch die Kontrolle über die Ereignisse verloren zu haben. Die größten säkularen und religiösen Organisationen der Palästinenser arbeiten seit kurzem in einem gemeinsamen Komitee zusammen - unter Ausschluß der Autonomiebehörde. Der Ausschuß soll zunächst die Versorgung der Tausenden Verwundeten organisieren und will versuchen, die Folgen der aktuellen Eskalation abzufedern. Bereits während der sechsjährigen Intifada von 1987 bis 1993 wurde die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sowie deren Krankenversorgung und Schulausbildung von einer Vereinten Nationalen Führung illegal organisiert. Ob eine Verbindung dieses Komitee zur PLO-Gruppe Tanzim besteht, die über Schußwaffen verfügt, ist noch unklar.

Um weiteren Autoritätsverlusten entgegenzuwirken, hat der Polizeichef der Westbank, Jibril Rajoub, angekündigt, die palästinensischen Sicherheitskräfte würden die Zurückhaltung gegenüber der Besatzungsmacht aufgeben, sollten die unverhältnismäßigen Aktionen des israelischen Militärs anhalten. Nach seinen Angaben wurde das israelische Feuer von der palästinensischen Polizei bisher nicht erwidert. Arafat selbst hat dazu aufgerufen, aus Häusern heraus nicht mehr auf Israelis zu schießen, um dem israelischen Militär keinen Anlaß zur Bombardierung zu liefern. Er bekundete seine Bereitschaft, trotz des Konflikts die Gespräche mit Israel wieder aufzunehmen. Gleichzeitig muß er den Aufstand unterstützen. Die Intifada werde weitergehen, bis die palästinensische Flagge über Jerusalem als Hauptstadt eines Palästinenserstaates wehe, wurde Arafat am Sonntag in Nachrichtenagenturen zitiert. Auch Marwan Barghouti, Parteigänger Arafats und Anführer der Tanzim, hat sich in der vergangenen Woche für Verhandlungen mit Israel ausgesprochen - bei Fortführung des Aufstandes.

Mittlerweile liegen erste Erkenntnisse über den Verbleib eines der mutmaßlichen palästinensischen Beteiligten an dem Lynchmord an zwei israelischen Soldaten vor. Taabet Aasi, der mit blutbeschmierten Händen am Fenster nach der Ermordung der Soldaten am 12. Oktober in Ramallah fotografiert wurde, ist beim Transport zum Verhör von sechs israelischen Polizisten schwer mißhandelt worden. In der letzten Woche hat der israelische Geheimdienst Shin Bet weitere Verdächtige in Dörfern um Ramallah verhaftet. Einige sollen sich noch in den palästinensischen Städten versteckt halten, die von der Autonomiebehörde kontrolliert werden. Gleichzeitig sind jüdische Siedler, die wegen der Ermordung eines palästinensischen Zivilisten angeklagt waren, wegen Mangels an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Mindestens drei Palästinenser wurden in den vergangenen vier Wochen von Siedlern ermordet, Dutzende verletzt. Die Brutalität gegenüber den Palästinensern scheint dabei keine Grenzen zu kennen. Ein ausländischer Augenzeuge einer Beerdigung bei Ramallah berichtete gegenüber junge Welt, daß ein von einem Siedlermob ermordeter Palästinenser von Brandmalen übersät und durch seine Augen Nägel getrieben worden waren. Nach Angaben israelischer Menschenrechtsorganisationen dauern die Angriffe auf Palästinenser an. Derzeit könne ein Großteil der Olivenernte nicht eingebracht werden, weil die Bauern aus nahegelegenen jüdischen Siedlungen gezielt beschossen würden.

Inzwischen brachte die Meretz-Partei, liberaler Koalitionspartner von Ministerpräsident Ehud Barak, einen Antrag in die Knesset ein, der den Abbau der militantesten Siedlungen vorsieht. Darunter ist die Siedlung Netzarim im Gazastreifen, wo der zwölfjährige Muhammad ad-Durra von israelischen Soldaten erschossen wurde. Die Bilder des jungen Palästinensers, der in den Armen seines Vaters im israelischen Kugelhagel starb, gingen um die Welt. Auch die 400 rechtsextremen Siedler in Hebron, deren Angriffe auf die palästinensische Bevölkerung seit Jahren von einer internationalen Beobachtergruppe dokumentiert werden, sollen dem Meretz-Antrag zufolge ihre Häuser verlassen. Das israelische Parlament hat aber erst einmal weitere 60 Millionen Mark für die militärische Sicherung der Siedlungen bereitgestellt.

Trotzdem soll wieder Normalität in das Leben der Palästinenser einziehen. Arafat hat die Universitäten in den besetzten Gebieten angewiesen, den Betrieb wieder aufzunehmen. Die Geschäfte sind geöffnet. Ariel Scharon, der Chef der rechten Likud-Partei, dessen provokativer Auftritt an den muslimischen Stätten in der Altstadt von Jerusalem Ende September die Unruhen auslöste, tritt nun für eine »neue Außenpolitik« der von ihm geforderten »Notstandsregierung« ein. Sie soll eine Interimsvereinbarung ohne zeitliches Limit mit den Palästinensern aushandeln. Siedlungsbau und Besatzung könnten dann fortgeführt werden.

Peter Schäfer