Frankfurter Rundschau, 30.10.2000

Die Partei der "Grauen Wölfe" zum Hüter der Menschenrechte gemacht

In der Türkei verdrängen Rechtsextremisten eine lästige Ausschussvorsitzende, die systematische Folter nachgewiesen hat

Von Gerd Höhler (Athen)

Die türkischen Rechtsextremisten kontrollieren künftig die Menschenrechtskommission des Parlaments in Ankara. Enthüllungen sind nun wohl nicht mehr zu erwarten.

Die Dame kam stets unangemeldet und nicht selten zu nächtlicher Stunde. Dutzende von türkischen Polizeiwachen hat die Abgeordnete Sema Piskinsüt während der vergangenen Jahre inspiziert. Was die Vorsitzende der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments bei ihren Visiten entdeckte, brachte Polizei und Regierung in Verlegenheit. Piskinsüt fand schalldicht präparierte Folterzellen, Apparaturen für Elektroschocks, Schlaginstrumente und Haken, an denen die Peiniger ihre Opfer offenbar aufhängen.

Doch solche kompromittierenden Enthüllungen haben die Folterer in Zukunft kaum mehr zu fürchten. Vergangene Woche wurde Frau Piskinsüt aus dem Verkehr gezogen. Den Vorsitz des Menschenrechts-Ausschusses übernimmt nun die rechtsextremistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), ein Koalitionspartner des links-nationalistischen Premiers Bülent Ecevit. Die Partei, deren Kampforganisation "Graue Wölfe" Ende der siebziger Jahre Anatolien mit einer Welle des Terrors überzog, hat im türkischen Polizeiapparat dominierenden Einfluss und hohes Ansehen.

Die parlamentarische Menschenrechts-kommission werde künftig unter dem Einfluss der MHP "an der Vertuschung der Folterpraktiken arbeiten", fürchtet Ercan Kaner von der Istanbuler Sektion der türkischen Menschenrechts-Vereinigung. Sema Piskinsüt sei als Vorsitzende abgelöst worden, "weil ihre Ermittlungen für die Polizei und das Innenministerium zu störend" gewesen seien, glaubt der Anwalt. Auch die meisten türkischen Zeitungen meinen, die lästige Ausschussvorsitzende, die Ecevits Partei der Demokratischen Linken angehört, sei auf Druck der Polizei und der MHP kaltgestellt worden. Auch über angebliche Einflussnahme der mächtigen Militärs wird spekuliert.

Außenpolitisch kommt die Ablösung der Abgeordneten Piskinsüt für Ecevit allerdings zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Am 8. November wird die EU-Kommission ihr jüngstes Gutachten über die Beziehungen zur Türkei vorlegen.

Der Bericht der Europäischen Union dürfte auch die Menschenrechtsdefizite auflisten und Abhilfe anmahnen. Piskinsüts Absetzung sei "ein schlechtes Signal", zitiert jetzt die Turkish Daily News einen EU-Diplomaten in Ankara.

Mehr als 600 Fälle von Folter hat die türkische Menschenrechts-Vereinigung (IHD) im vergangenen Jahr dokumentiert. Mindestens neun Menschen wurden zu Tode gefoltert. Die Dunkelziffer der nicht bekannt gewordenen Fälle dürfte allerdings viel höher sein. Viele Folteropfer schweigen aus Scham oder Angst. Die gebetsmühlenartige Beschwichtigung der Regierung in Ankara, es gebe keine systematische Folter sondern nur "bedauerliche Einzelfälle", hat sich dank der Ermittlungen von Sema Piskinsüt als unhaltbar erwiesen.

Der im vergangenen Mai von ihr vorgelegte Untersuchungsbericht fand in den türkischen Medien immerhin breite Beachtung. Ob Piskinsüt darüber hinaus viel bewirken konnte, ist aber fraglich. Eine von ihr geforderte Debatte des Parlaments über die festgestellten Menschenrechtsverletzungen hat nie stattgefunden. Die Regierung ignorierte ihre Berichte.

Auch die Polizei zeigte sich von den Ergebnissen unbeeindruckt. 1998 hatte Piskinsüt auf einer Istanbuler Wache Foltergeräte entdeckt. Bei einer neuerlichen Inspektion Anfang dieses Jahres waren sie noch immer vorhanden.