Süddeutsche Zeitung, 28.10.2000

Sema Piskinsüt wies auf zahlreiche Verstöße hin

Vorsitzende des Menschenrechts-Ausschusses abgesetzt

Rechts-nationalistische MHP soll neuen Chef stellen / "Die Türkei hat keine großen Probleme mit Menschenrechten" / Von Wolfgang Koydl

Istanbul - In der Türkei wächst der Einfluss der rechts-nationalistischen "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP). Nachdem die an der Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Bülent Ecevit beteiligte Partei das Amt des Parlamentspräsidenten übernommen hat, soll sie nun den Vorsitz des außenpolitisch sensiblen Menschenrechts-Ausschusses der Volksversammlung erhalten. Die Entscheidung hat in der Öffentlichkeit vor allem deshalb Besorgnis erregt, weil sich die MHP bisher nicht als Anwalt der Menschenrechte hervorgetan hat. Die Partei, aus der die berüchtigten "Grauen Wölfe" hervorgingen, hat sich vielmehr als Repräsentant der Staatsmacht im Kampf gegen pro-kurdische und linksgerichtete Tendenzen einen Namen gemacht.

Politische Beobachter werten die bevorstehende Ernennung eines MHP-Abgeordneten zum Vorsitzenden des Ausschusses zudem als Schlag gegen die bisherige Vorsitzende Sema Piskinsüt. Sie hatte sich in diesem Amt als unbestechlich und durchsetzungsfähig erwiesen. Aufsehen erregte Piskinsüt, als sie unangemeldet Polizeireviere inspizierte und dabei Folterwerkzeuge entdeckte und sicherstellte. Mit dieser und ähnlichen Aktionen hatte sich Piskinsüt, die Ecevits "Demokratischer Linkspartei" angehört, Feinde im Sicherheitsapparat gemacht.

Die beiden für den Vorsitz vorgesehenen MHP-Abgeordneten Ismail Köse und Oktay Vural haben unterdessen zu erkennen gegeben, dass der Kampf gegen die Folter für sie keine Priorität haben wird. Stattdessen solle der Menschenrechtsausschuss unter Führung der MHP "die ganze Menschheit umarmen ", erklärte Köse. "Die Türkei hat keine großen Probleme mit den Menschenrechten", fügte Köse hinzu, der auch stellvertretender MHP-Vorsitzender ist. "Aber es gibt Missverständnisse im In- und Ausland. Nach seinen Worten muss der Ausschuss vielmehr dann tätig werden, wenn "in Tschetschenien, Bosnien, West-Thrazien und Afrika Menschen verhungern". "Wir können uns nicht auf die Folter und die Menschenrechte beschränken", sagte Köse weiter. "Verkehrsprobleme, die Lage an den Gerichten - sind das etwa keine Rechte der Menschen?" Nach seiner Auffassung sind Menschenrechte ein quantitatives Problem: "In türkischen Gefängnissen sitzen nur 75 000 Menschen, aber draussen leben 65 Millionen, in der ganzen Welt leben 300 Millionen Türken, und es gibt zwei Milliarden Muslime. Die Türkei ist verantwortlich für ihre Rechte, dies ist die Mission der Türkei", sagte Köse.

Die bisherige Vorsitzende Piskinsüt kritisierte ihre Abberufung und verlangte eine Begründung. Dies sei allein deshalb wichtig, um "falschen Spekulationen und Gerüchten im Ausland entgegenzuwirken". Vertreter der EU hatten die bisherige Arbeit des Menschenrechtsausschusses als Beispiel für politische Fortschritte in der Türkei gelobt.