Frankfurter Rundschau, 28.10.2000

Migrationsexperte rüffelt Merz

Türkei-Zentrum: Streit über Leitkultur brüskiert Zuwanderer

Von Ursula Rüssmann

FRANKFURT A. M., 27. Oktober. Mit seiner Forderung, Ausländer in Deutschland müssten sich einer "deutschen Leitkultur" anschließen, hat sich Unionsfraktionschef Friedrich Merz scharfe Kritik des Essener Zentrums für Türkeistudien eingehandelt. In einer Situation, "in der die Fremdenfeindlichkeit trotz hohen Wachstums und sinkender Arbeitslosenzahlen noch zunimmt", sei es "äußerst gefährlich, solche Dinge öffentlich zu sagen", kritisierte der Direktor des Instituts, Faruk Sen. Er warnte im Gespräch mit der FR nachdrücklich davor, Ausländerpolitik und das Stichwort "deutsche Leitkultur" zum Wahlkampfthema zu machen.

Die von Merz ausgelöste Debatte stößt nach den Worten des Migrationsforschers die sieben Millionen Zuwanderer in Deutschland vor den Kopf. Bei ihnen entstehe der Eindruck, "dass die von ihnen vollbrachte Integrationsleistung angezweifelt wird", so Sen. Dabei sei einiges, was Merz fordere, längst unstrittig - etwa, dass die deutsche Sprache beherrschen müsse, wer hier Fuß fassen wolle. Auch das Grundgesetz "wird von den Zuwanderern akzeptiert". Allerdings sieht Sen auch die Migrantenorganisationen selbst in der Pflicht, ihre "Sprachlosigkeit aufzugeben" und sich bei Debatten wie der vom CDU-Politiker ausgelösten verstärkt einzumischen.

Faruk Sen hält es für unumgänglich, im zusammenwachsenden Europa "Leitkultur als eine des vereinigten Europa zu definieren". Der Wissenschaftler verweist auf die Einführung des Euro als gemeinsame Währung, die zunehmende Verlagerung einzelstaatlicher Kompetenzen nach Brüssel sowie die voranschreitende Rechtsharmonisierung und zieht daraus den Schluss, dass "Leitkultur nationenbezogen schlicht nicht mehr definierbar ist".