Süddeutsche Zeitung, 27.10.2000

"Aufstand der Zuständigen"

Experten fordern von Polizei und Ämtern resoluteres Handeln / Von Andrea Exler

Der Bundeskanzler hatte gegen rechtsextreme Gewalt einen "Aufstand der Anständigen" gefordert. Der Appell blieb folgenlos, denn die "Anständigen", gewöhnliche Bürger also, die nicht fremdenfeindlich eingestellt sind, kennen Rechtsextreme nur aus den Medien. Experten verlangen nun einen "Aufstand der Zuständigen". Bei einer Anhörung berichteten elf Sachverständige dem Innen- und Jugendausschuss des Bundestages über Gewalttäter und deren Opfer. Deutlich wurde vor allem eines: Die täglichen öffentlichen Aufrufe zu Toleranz stehen in krassem Gegensatz zu einer Praxis, die Opfer oft in die Rolle von Schuldigen drängt, während die Täter weiter unbehelligt ihr Unwesen treiben.

Im März haben im brandenburgischen Wriezen Rechtsextreme bei einer stundenlangen Hetzjagd mehrere Jugendliche verfolgt und mit Baseballschlägern angegriffen. Die Polizei war bereits vorab über den geplanten Übergriff informiert worden, griff aber nicht ein. Einer der Jugendlichen wurde lebensgefährlich verletzt. Erst als die Mutter des Opfers auf Aufklärung drängte und der Fall von der lokalen Presse aufgegriffen wurde, veranlasste der Bürgermeister eine Überprüfung der Vorfälle.

Hajo Funke, Politikwissenschaftler in Berlin, legte den Bundestagsabgeordneten eine lange Liste ähnlicher Fälle vor. Statt der Täter wurden die Opfer von Übergriffen festgenommen und stundenlang auf dem Revier festgehalten, ohne eine Aussage zu Protokoll geben zu können. Als sie endlich zu Wort kamen, hatten sich die Rechtsextremen längst in Sicherheit gebracht. In Schönbruch in Brandenburg alarmierten die Eltern eines von Rechtsextremen bedrohten Jugendlichen die Polizei, weil sich 20 Skinheads vor dem Haus der Familie versammelt hatten. Der Beamte in der Notrufzentrale fragte, ob sie die Neonazis denn nicht hereinlassen wollten. In anderen Fällen tauchte der Streifenwagen verspätet auf und die Polizisten stiegen nicht einmal aus.

Vor diesem Hintergrund ist die Erkenntnis des Verfassungsschutzes plausibel, dass es zwar heute weniger rechtsextreme Gruppen als vor einigen Jahren gibt, die Gewaltbereitschaft dieser Gruppen aber steigt. Die meisten der von den Bundestagsausschüssen befragten Experten glauben, dass rechte Straf- und Gewalttäter die Konsequenzen ihres Verhaltens nicht deutlich genug spüren. "Unsere Befunde zeigen, dass Appelle diese Jugendlichen nicht erreichen. Notwendig ist Repression", sagte der Jugendforscher Dietmar Sturzbecher. Die so genannte "akzeptierende Jugendarbeit", die rechtsextremen Jugendlichen Räume und Betreuer zur Verfügung stellt, wurde von den Fachleuten kritisiert. Häufig seien demokratisch orientierte Jugendliche so in die Arme der Rechtsextremen getrieben worden, weil es für sie keine alternativen Begegnungsstätten gab.

Medien in der Kritik

Hans-Joachim Heuer von der Polizeiführungsakademie in Münster betonte, der pauschale Verdacht einer stillschweigenden Komplizenschaft von Polizei und Behörden mit den Rechtsextremen greife zu kurz. "Fremdenfeindliche Polizisten sind zwar keine bloßen Einzelfälle, aber Rassismus ist auch kein systematisches Verhaltensmuster der Polizei", sagte Heuer. Angst vor gewaltbereiten Extremisten spiele eine Rolle. Oft seien die Beamten bei Großeinsätzen gegen verbotene Versammlungen überfordert.

Die Sachverständigen mahnten auch einen verantwortungsbewussteren Umgang der Medien mit dem Thema Rechtsextremismus an. So hätten viele Journalisten den Begriff der "national befreiten Zonen" ungeprüft von den Neonazis übernommen und populär gemacht. Die Experten sprachen in diesem Zusammenhang von "Angstzonen". Die Aufmerksamkeit der Medien, die Neonazis seit Beginn der Debatte im Sommer genießen, ermuntert auch Nachahmungstäter. Laut Verfassungsschutz sind rechtsextreme Gewalttaten im August im Vergleich zum Vormonat um 76 Prozent gestiegen.