Frankfurter Rundschau, 27.10.2000

Eine Flut von Klagen

50 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention

Von Karl-Otto Sattler (Straßburg)

Einhellige Unterstützung hat am Donnerstag im deutschen Bundestag die Forderung gefunden, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte finanziell besser auszustatten.

Luzius Wildhaber, der Präsident des Gerichtshofs in Straßburg, ist kein Mann, der politischen Schaum schlägt. Als Jurist pflegt er eher die trockene Rede. Gerade deshalb hatten die Appelle des Schweizers große Wirkung, die er bei Pressekonferenzen, vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats oder jüngst in Berlin bei einem Festakt zum 50. Jahrestag des Beitritts der Bundesrepublik zu dem Staatenbund an die 41 Mitgliedsländer richtete: "Versagen Sie uns die Unterstützung nicht!" Es geht um Geld, um sechs Millionen Mark jährlich, die er für die höchste Gerichtsinstanz auf dem Kontinent zusätzlich braucht, denn mittlerweile ertrinkt das 41-köpfige Kollegium in einer Flut von Klagen.

Anfang November werden in Rom Vertreter des Europarats sowie zahlreiche Regierungsvertreter jenen Tag feiern, an dem 1950 die Charta zur Unterzeichnung durch die damals 15 Mitgliedsstaaten ausgelegt wurde. Dabei sein wird die deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die am Donnerstag im Bundestag dazu eine Regierungserklärung abgab. Deutschland sei auf Grund seiner Geschichte zu einer besonders wirksamen Menschenrechtspolitik verpflichtet, sagte sie. Außenminister Joschka Fischer betonte, der Grundrechtsschutz habe "nichts an Aktualität eingebüßt". Man müsse sich selbstkritisch fragen, inwieweit Deutschland der Konvention gerecht werde.

Der Katalog der Freiheitsrechte stellte für Europa eine historische Zäsur dar. Der britische Liberale David Russell-Johnston, Präsident des Europarat-Parlaments: "Erstmals haben souveräne Staaten akzeptiert, dass nicht ihre Macht, sondern das Recht des Individuums absolut ist." Als Instrument zur Durchsetzung wurde der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof geschaffen, der 1959 seine Arbeit aufnahm. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 wurden auch 17 osteuropäische Reformstaaten in die Demokraten-Familie aufgenommen. Wenn Regierungschefs zum Europarat reisen, fehlt in ihren Reden selten der Hinweis auf das Recht von nunmehr 800 Millionen Europäern, in Straßburg wegen Verletzung ihrer Menschenrechte klagen zu können. Die Konsequenz ist eine drastische Zunahme der Eingaben. 1993 waren es 2000 Beschwerden, die vom Gerichtshof zugelassen wurden. 1999 waren es bereits 8400 Klagen. Dieses Jahr wird ein neuer Rekord erreicht, sind doch bereits 15 000 Beschwerden eingereicht worden, von denen 10 000 nicht einmal geprüft werden konnten.

Die Richter schieben einen Berg von Fällen vor sich her. Lange Zeit führten italienische und türkische Bürger die Liste der Beschwerdeführer an, inzwischen befinden sich auch Russen, Rumänen und Polen in der Spitzengruppe. Nur eine Minderheit der Klagen mündet in einen Prozess, oft kommt es zur gütlichen Einigung zwischen Bürger und Regierung, nicht selten werden Eingaben als unbegründet zurückgewiesen. Aber alle zugelassenen Fälle müssen bearbeitet werden. Präsident Wildhaber spricht mit Blick auf die Beschwerdeflut von einer "drohenden Paralysierung" des Gerichts, das einen Jahresetat von 50 Millionen Mark hat. Die sechs Millionen Mark, die er von den 41 Regierungen fordert, sollen in Personalaufstockung und in Computertechnik fließen.

Der Holländer Erik Jürgens, rechtspolitischer Sprecher des Europarat-Parlaments, sieht ein anderes Manko des Gerichtshofs: "Die Konvention sieht keine Sanktion vor, wenn ein Land ein Urteil des Gerichtshofs nicht respektiert." Das Ministerkomitee, in das die Außenminister ihre Botschafter entsenden, hat die Umsetzung der Richtersprüche zu kontrollieren - doch mehr als Mahnungen oder politischer Druck sind nicht drin. Erst jüngst stellte die Parlamentarische Versammlung die Türkei, Frankreich und Großbritannien an den Pranger, weil sie Straßburger Urteile nicht vollstreckt haben und erfolgreiche Beschwerdeführer auf Satisfaktion warten lassen.