Die Welt, 27.10.2000

Dschihad-Attentäter sprengt sich im Gazastreifen in die Luft

Ein Israeli verletzt - Angst vor Bin Laden in Ankara

Von Norbert Jessen

Tel Aviv - Erstmals seit dem Beginn der Unruhen vor vier Wochen hat am Donnerstag ein Palästinenser einen Selbstmordanschlag auf eine israelische Einrichtung verübt. Der Attentäter fuhr auf einem Fahrrad an eine israelische Militärstellung im Gazastreifen heran und zündete eine versteckte Bombe. Ein israelischer Soldat wurde leicht verletzt, der Selbstmordattentäter kam ums Leben. Ein Mitglied der palästinensischen Sicherheitskräfte bestätigte, dass der Attentäter zu der fundamentalistischen Organisation Islamischer Dschihad gehört habe. Er sei 24 Jahre alt gewesen und habe in Gaza-Stadt gewohnt. Israel machte die palästinensische Autonomiebehörde für den Anschlag verantwortlich. Auch in der ersten Intifada Ende der achtziger Jahre waren solche Pendelbewegungen der Gewalt zu verzeichnen: Wird der Massenprotest schwächer, verstärken sich Attentate Einzelner. Die radikalen Untergrundzellen in der palästinensischen Autonomie haben aber weiter Schwierigkeiten, ihren Terror in israelische Städte zu tragen. Derzeit zielen ihre Angriffe auf israelische Soldaten und jüdische Siedler.

Obwohl die Proteste der Palästinenser auf den Straßen merklich nachließen, zeigt Israels Regierung keine Bereitschaft, den sich abzeichnenden "Konflikt auf Sparflamme" zu akzeptieren. "Ohne eine Beruhigung der Straße sind neue Verhandlungen unmöglich", erklärt der amtierende Außenminister Schlomo Ben Ami. Aber in der Nacht zum Donnerstag gab es ein geheimes Treffen zwischen dem israelischen Justizminister Jossi Beilin und dem palästinensischen Unterhändler Saeb Erakat. Beide sind aufs Engste mit dem Friedensprozess verbunden. Noch tastet Premier Ehud Barak letzte Möglichkeiten zur Fortsetzung des Friedensprozesses ab.

Palästinenserpräsident Jassir Arafat strebt einen Neuansatz in den Verhandlungen an - vor allem durch eine Internationalisierung mit verstärkter Vermittlerrolle der UNO und auch aktiverer Hinzuziehung europäischer Staaten - eine multilaterale Wende, die in Israel bei Opposition und Regierung gleichermaßen unbeliebt ist. Der bilaterale Charakter der Verhandlungen ist seit jeher für jede israelische Regierung eine Grundvoraussetzung.

Israels größte Oppositionspartei Likud ist deshalb bisher unentschlossen, ob sie in eine Notstandsregierung eintreten soll. Sie fordert die völlige Einstellung neuer Verhandlungen als Vorbedingung für ein Zusammengehen mit Baraks Rumpfkoalition. Alle bisherigen Angebote Israels an die Palästinenser sollen für nichtig erklärt werden. Erst nach Aufstellung einer neuen Liste mit Forderungen an die Palästinenser sollen neue Verhandlungen möglich sein.

Letztlich aber ist Likud-Chef Ariel Scharon an einer Koalition interessiert, trotz massiven Widerstandes in der Partei vor allem der Anhänger des ehemaligen Premiers Benjamin Netanjahu. Scharon will die Führung nicht an Netanjahu abgeben, der im Falle von Neuwahlen sein Come-Back plant. Auch Ehud Barak muss mit einem schnellen Ende seiner politischen Karriere rechnen, wenn sich die Lage nicht beruhigt und der Friedensprozess auf Jahre zum Erliegen kommen sollte.

Unterdessen berichtete die türkische "Milliyet", der von den USA als Top-Terrorist gesuchte Moslemfundamentalist Osama bin Laden plane Anschläge auf US-Einrichtungen in der Türkei. Der US-Geheimdienst CIA habe die türkischen Behörden über entsprechende Hinweise informiert. Bin Laden wolle einen Agenten in die Türkei einschleusen; Kontrollen an Flughäfen und Grenzübergangsstellen würden deshalb verschärft. Bin Laden soll es besonders auf die Luftwaffenbasis Incirlik im Süden der Türkei abgesehen haben. Incirlik wird von der US-Luftwaffe für Kontrollflüge über Nordirak benutzt. Auf dem Luftwaffenstützpunkt gilt seit Tagen erhöhte Alarmbereitschaft wegen eingegangener Anschlagsdrohungen.