Frankfurter Rundschau, 26.10.2000

Der Kampfbegriff

Merz baut an einem Drohszenario und suggeriert, dass die "Leitkultur" wegen der Ausländer und Zuwanderer in Gefahr sei

Von Wolfgang Storz

Die Union versucht, Tritt zu fassen. Das ist gut für sie und könnte sich als schlecht für diese Gesellschaft erweisen. Diejenigen nämlich, die die Frage der Integration von Ausländern zu einem Kampfthema machen wollen, die planen, die Gesellschaft in dieser Frage zu spalten, um die Union hinter sich zu einen, sind einen Schritt weiter als zuvor. Der bisher umstrittene CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende ist gestärkt, seine Kritiker sind zu Außenseitern gemacht.

Friedrich Merz greift für die Union ein Thema auf, das viele Bürger beschäftigt. Ob es um Sprachkenntnisse, um andere Vorstellungen von Zusammenleben, die Erziehung von Kindern oder die Art und Weise geht, wie alltägliche Konflikte ausgetragen werden - wenn Ausländer und Deutsche in Betrieben, Schulen und in Stadtteilen zusammen arbeiten und leben (müssen), dann ist dies nicht nur eine Quelle von geschätzter kultureller Vielfalt und anregendem Sprachengewirr. Da gibt es oft enorme Probleme.

Und vielen erscheinen diese Probleme noch größer, als sie es in ihrem Alltag erleben. Die Erweiterung der EU, Globalisierung, der Verlust von sozialer Sicherheit, die Konkurrenz um Jobs - das alles vermischt sich und kann Ängste provozieren, die für den Einzelnen real sind und deshalb ernst genommen werden müssen.

Nun gibt es für eine Partei zwei Möglichkeiten, ein solches Thema aufzugreifen. Sie benennt die Probleme und versucht, an der Lösung zu arbeiten. Das hieße beispielsweise, sich darüber zu verständigen, welche Regeln all diejenigen einhalten müssen, die befristet oder ständig in Deutschland leben. Das hieße, Klarheit und Lösungen schaffen, um Ängste zu nehmen und Vertrauen zu fördern.

Wie es scheint, hat sich zumindest eine Mehrheit im konservativen Lager für den anderen Weg entschieden. In der Tradition früherer CDU-Strategen - Begriffe besetzen, polarisieren, die Hegemonie erringen - versucht sich nun der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende. So steht am Beginn der Debatte der Kampfbegriff: freiheitliche deutsche Leitkultur. Er erlaubt es, mit allen gängigen Ressentiments zu arbeiten.

Können die Deutschen in ihrem eigenen Land nicht mehr leben und arbeiten wie sie wollen? Merz spricht offen davon, dass Deutsche, die in ihrem Stadtviertel in die Minderheit geraten, um ihre Identität bangen müssten. Er spricht dann von der deutschen Sprache, dem Grundgesetz, den Menschenrechten, was alles bewahrt werden müsse. Warum tut er das? Es kann ihm ja nicht darum gehen, Selbstverständlichkeiten aufzuzählen. Merz baut mittels Überhöhungen an einem Drohszenario und suggeriert, dass diese Werte in Gefahr seien, wegen der Ausländer, wegen der Zuwanderer. Merz benennt so all das, was hinter dem Begriff "Überfremdung" steckt, ohne dieses Wort in den Mund zu nehmen.

Deutsche Leitkultur, dieser Begriff legt zugleich nahe, dass sie anderen Kulturen überlegen, dass sie besser, höherwertig ist. So dass sich daraus auch das Recht ableitet, andere Kulturen zu dominieren, die Menschen mit anderen kulturellen Vorstellungen entsprechend "einzupassen". Auch an dieser Stelle schwingt viel mit, was an deutschen Stammtischen erfolgversprechend zum Klingen gebracht werden kann. Soweit das, was mit diesem Begriff alles angerichtet werden kann, weshalb er auch in die Diskussion eingeführt worden ist.

Aber wie füllt nun der Christdemokrat Merz diesen Begriff? Woran sollen sich die Zuwanderer und Ausländer denn ausrichten? Worum geht es Merz in der Sache? Wie einer lebt, woran er glaubt - auch Merz will das Private dem Bürger lassen. Er will jedoch feste Regeln, die dem öffentlichen Zusammenleben einen Rahmen setzen. Regeln, die natürlich das private Leben all derjenigen begrenzen, die auf dem deutschen Territorium in den Grenzen des Jahres 2000 leben. Dazu gehören die Menschenrechte, die im Grundgesetz festgelegten unveränderlichen Prinzipien dieses demokratischen Rechtsstaates. Merz will also - wie viele andere auch - Ausländer und Zuwanderer auf die zentralen Werte unserer Verfassung verpflichten. Wer will da widersprechen?

Bemerkenswert, dass von den Leitkultur-Politikern in besonderer Weise die Gleichberechtigung von Mann und Frau angesprochen wird. Ein Postulat, das wohl erst in der "deutschen Gesellschaft" durchgesetzt werden muss. Nachdem man jedoch inzwischen weiß, welch ein Herzensanliegen gerade diese Aufgabe den deutschen konservativen Männern Friedrich Merz, Thomas Goppel und anderen ist, muss einem um die Verwirklichung nicht länger bange sein.

Die Ausländer und Zuwanderer müssten in diese Regeln und Werte eingepasst werden, so ist zu hören. Aber warum soll es denn nicht ohne Zwang versucht werden; wenigstens in einem ersten, wenn auch nicht ausreichenden Schritt. Zumal es eine für alle Bürger gedeihliche Art gibt, um vereinbarte Werte und Grundvorstellungen allseits ins Bewusstsein zu bringen: Wir Deutschen leben all unsere guten Regeln einfach vor. Von der Gleichberechtigung bis hin zur Gesetzestreue. Eine ganz eigene Herausforderung für die frühere und jetzige Spitze der Konservativen.