Frankfurter Rundschau, 26.10.2000

Angeklagt wegen "Verunglimpfung des Staates"

Cumhüriyet-Kolumnist Aydin Engin hat den Zorn der türkischen Obrigkeit auf sich gezogen

Von Stefan Koch (Istanbul)

Flucht und Widerstand gegen die staatliche Obrigkeit werden Aydin Engin wohl sein gesamtes Leben lang begleiten. Schon als Kind erlebte der türkische Journalist mit, was es heißt, von seinen eigenen Landsleuten verfolgt zu werden. Damals, in den Jahren 1941 und 1942, wuchs Aydin Engin in einem kleinen Dorf an der Ägäischen Küste auf und hatte engen Kontakt zu deutschen Familien, die vor den Nazis auf der Flucht waren - unter ihnen auch der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter.

Fünfzig Jahre später wurde Aydin Engin selbst zum Flüchtling. Der engagierte Publizist hatte über die Missstände in seiner Heimat berichtet und musste in Deutschland Schutz vor den türkischen Militärs suchen. Die hatten ihn 1980 nach ihrem Putsch per Schnellverfahren zu insgesamt 137 Jahren Haft verurteilt. Seine Kontakte aus der Kinderzeit halfen ihm, nach der Flucht eine Wohnung bei einem Verwandten der Familie Reuter in Frankfurt zu finden.

Elf Jahre harrte Aydin Engin im Exil am Main aus, ehe er 1991 freiwillig in die Türkei zurückkehrte. Der Journalist hatte sich mit der neuen Obrigkeit auf einen ungewöhnlichen Handel eingelassen: Er erklärte sich bereit, einige Monate seiner Strafe tatsächlich abzusitzen, um im Gegenzug den Rest der Haftzeit erlassen zu bekommen.

Die kurzzeitige Inhaftierung sei vor zehn Jahren nichts ungewöhnliches gewesen, berichtet Aydin Engin rückblickend: "Ich befand mich in guter Gesellschaft, mit vielen Intellektuellen und politisch denkenden Menschen." Als die Haftzeit zu Ende ging und der Journalist zum anerkannten Kolumnisten der Zeitung Cumhüriyet aufstieg, hätte er sich allerdings nicht träumen lassen, dass ihm noch einmal Gefängnisstrafe drohen könnte. Doch am 10. November ist es wieder soweit: Dann hat sich der streitbare Publizist den Richtern zu stellen. Sie werfen ihm die "Verunglimpfung des Staates" vor, weil er im Frühjahr diesen Jahres über einen Gefängnisaufstand bei Ankara berichtet hatte, bei dem zehn Menschen zu Tode kamen und 65 Insassen verletzt wurden. Aydin Engin hatte sich den Zorn der Obrigkeit zugezogen, weil er mit Müttern und Vätern der Gefangenen gesprochen hatte und den Arzt interviewte, der die Verletzten behandelt hatte.

Dass der türkische Staat nicht mit sich spaßen lässt, ist dem landesweit anerkannten Journalisten hinlänglich bekannt. Immerhin wird der Staat bis heute in der Verfassung als "heilig" bezeichnet, der unter allen Bedingungen zu verteidigen sei. Dass Aydin Engin 1995 in der Türkei zum Journalisten des Jahres gewählt worden war, dürfte das Gericht nur wenig beeindrucken. Er wäre nicht der erste Journalist, der in diesem Jahr hinter Schloss und Riegel käme. Dennoch will er sich nicht einschüchtern lassen: "Wir hatten schon immer einen starken Staat, und wir hatten schon immer eine starke Opposition."

Seine persönliche Betroffenheit will Aydin Engin dabei gar nicht so hoch hängen: "Von diesen Repressionen sind viele Journalisten betroffen. Und vielen ergeht es bei weitem schlimmer als mir." Jetzt komme es vielmehr darauf an, die Auseinandersetzung mit den Gerichten und dem übermächtigen Militär auszuhalten. Auf verlorenem Posten sieht sich der 62-Jährige keineswegs: Seit die Türkei des Status als Beitrittskandidat der Europäischen Union erlangt hat, stehen die Themen Demokratie und Menschenrechte ständig auf der Tagesordnung. "Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen", ist sich der Journalist sicher.

Ob er am 10. November allerdings von den Vorwürfen freigesprochen wird, steht damit noch längst nicht fest.